Liebe Leserinnen,

ich heisse Gabriel Diakowski und wollte ursprünglich Journalist werden.

Doch während meines Studiums der Romanistik und Kommunikationswissenschaften ergab sich unerwartet die Chance eines Praktikums in der damals kreativsten Werbeagentur Österreichs. Die Aufgabe, Denkmuster zu erkennen und originell zu brechen, machte mir so einen Spass, dass ich mein Studium liegen liess und Werbetexter wurde - allerdings nicht ohne schlechtes Gewissen. Deshalb nahm ich mir fest vor, ewiger Student zu bleiben  und alle Fähigkeiten, die ein guter Autor und Kreativer braucht, eigenständig zu erwerben.

Mein Weg führte in die Filmproduktion, die zeitgenössische Kunst, nach Deutschland  in zwei der besten Werbeagenturen der Welt und schliesslich in die Musikproduktion. Seit knapp 2 Jahrzehnten bin ich selbstständig, ich habe viele Jahre als digitaler Nomade gelebt: in Vorarlberg, Deutschland, Marokko und schreibend auf Reisen im Orient. Zuletzt durfte ich als Autor und strategischer Kommunikationsberater im „Zukunftsinstitut“ mitarbeiten und  7 feine Jahre lang Unternehmen und Führungskräfte beraten. Dann stelle plötzlich ein Virus mein Leben auf den Kopf.

Was ich im Laufe meines beruflichen Studiums gelernt habe? Kreativität und Innovation entstehen in der Bewegung. Wenn man sich nicht bewegt und nach Orientierung sucht, kann man weder die Welt noch sich selbst neu entdecken. Ausserdem ist Denken, das zu neuen und innovativen Lösungen führt, immer interdisziplinär. Eine dritte und tiefe Erkenntnis, die mir tibetische Mönche mitgegeben haben: Unsere Sprache ist ein Medium der Übertragung. Alles, was wir Wissen nennen, ist nur in Relation zu unserem Körper und unserer Wahrnehmung existent. Daraus folgt, dass Wissen oder Know-How, das uns nicht persönlich, ja körperlich betrifft, nicht mehr als Klang oder heisse Luft bleibt.

Seit Corona steht meine Welt auf dem Kopf. Aber diesmal bin ich nicht allein auf der Suche nach Orientierung, ganz Europa ist es. Aus diesem Grund starte ich „Die Geschichte unserer Zukunft“ als mediale Plattform für einen offenen und interdisziplinären Dialog zu unserer Zukunft in Europa. Ich will mich nützlich machen.

Ich arbeite unabhängig und bin weder links noch rechts. Ich setze mich für Offenheit und wissenschaftliche Erkenntnis ein und hoffe, unsere Hörerinnen gemeinsam mit meinen Gästen inspirieren zu können, auf dass wir genug Mut aufbringen, unseren eigenen europäischen Weg zu gehen.

Ihr Gabriel Diakowski





Ludovit Garzik, wir erleben in Österreich gerade einen tiefen politischen Umbruch. Wird er Auswirkungen auf die Transformation der Wirtschaft haben?




Das glaube ich nicht, denn das Transformationsgeschehen in der Wirtschaft wird vom Management in den Organisationen bestimmt. Aber es wird sich einiges in der Wahrnehmung von Österreich ändern und das könnte die Standortattraktivität Österreichs mindern.



Sie kennen die österreichische Parteiszene sehr gut: Ist die FPÖ eine innovations-freundliche Partei?



Die gesamte Parteienlandschaft in Österreich ist grundsätzlich forschungs- und innovations-freundlich, das haben wir in den letzten 40 Jahren gesehen. Die Forschungsausgaben sind seit Beginn der 1980er-Jahre gestiegen, egal in welcher Regierungskonstellation, und Konstellationen haben wir inzwischen alle möglichen erlebt.



Sie haben eine Akademie zur Weiterbildung von Manager:innen in Innovations-ökosystemen gegründet. Wie steht es um das Innovationsökosystem Österreich?



In Österreich fehlt uns das Bewusstsein dafür, dass Innovationen in Ökosystemen entstehen. Wir denken nicht vernetzt genug. Innovationsökosysteme funktionieren ähnlich wie biolo-gische Ökosysteme. Es müssen viele unterschiedliche Parameter einbezogen werden, um als Organisation fruchtbar und innovativ sein zu können. Humankapital und Infrastruktur sind als Parameter relativ bekannt, aber sie reichen bei weitem nicht aus. Es sind auch Toleranz, interkulturelles Denken oder die Offenheit nötig, neue Produkte auszuprobieren und Feedback zu geben. Darüber hinaus werden Service-Dienstleister wie Anwälte, Patent-anwälte oder Steuerberater gebraucht, denn sie spielen in der Umsetzung eine wichtige Rolle. Diese Parameter sind Voraussetzungen dafür, dass sich Innovationsökosysteme bilden können. Sie fehlen in Österreich.



Wie bringt man Top-Manager:innen dazu, offener und toleranter zu sein?



Man lädt sie dazu ein, sich selbst kennenzulernen. Führungskräfte, 
die sich und ihr Denken nicht reflektieren oder wenig Bezug zu ihrem Innenleben haben, können andere Menschen nicht inspirieren. Sie haben Kommunikationsdefizite und führen meist nach technokratischen Modellen. Das wird von anderen oft als Stupsen und Stoßen empfunden und bewirkt am Ende genau das Gegenteil. Mangelnde Offenheit und Toleranz kommen aus mangelnder Selbstkenntnis – und mangelnde Selbstkenntnis erzeugt immer Kommunikationsprobleme.

Sie sprechen mangelnde Selbstkenntnis an. Fehlt es Manager:innen in Österreich an psychologischer Bildung?

Es hat auf jeden Fall mit Psychologie zu tun, aber man muss da gar nicht in die Tiefe. Im Englischen gibt es den Begriff „Mindfulness“. Damit ist gemeint zu wissen, wie man tickt, wie man sich präsentiert und wie man kommuniziert. Das sind Fähigkeiten, die man lernen und üben kann. 




(Foto: „Manager:innen, die keine Beziehung zu ihrem Innenleben haben, können nicht inspirieren." Erstellt mit DALL-E von OpenAI



Können Sie „Mindfulness“ näher erklären?



Ein wesentlicher Punkt von Mindfulness ist es, zwischen negativen und positiven Vibes zu unterscheiden. Wir haben in unserer Gesellschaft leider sehr viele negative Vibes, die von Neid, Schadenfreude oder Aggression erzeugt werden. Mindfulness bedeutet, diese negativen Vibes zwar zu registrieren, aber nicht auf sie zu reagieren. Stattdessen konzen-triert man sich auf positive Vibes, die Freude und Spaß ausstrahlen. Sie sind es, die für Inspiration sorgen und positive Führungskraft verleihen.


Top-Manager:innen in Österreich sind nicht „mindful“ genug?


Nein, wir haben in Sachen Kommunikationsfähigkeiten definitiv ein Defizit in unserem Bildungssystem. Es betrifft nicht nur die eigene Kommunikation, sondern auch die Fähigkeit, die Kommunikation anderer Menschen zu lesen und zu spüren. Die meisten Menschen im Top-Management können die Vibes ihres Teams nicht wahrnehmen und deshalb auch nicht erfolgreich und inspirierend kommunizieren. Das wird ihnen besonders in Transformations-prozessen zum Verhängnis, weil das Positive an der Transformation nicht vermittelt und daher auch von niemandem nachempfunden werden kann.

Führung ist also eine Frage der richtigen Kommunikation?

Nicht nur, aber sie beeinflusst die Qualität der Führung sehr. Entscheidend ist eben auch die Frage, wie gut sich eine Führungskraft selbst kennt. Menschen, die sich selbst gut kennen, stecken mit ihrer Art an. Sie prägen das Mindset und die Kultur der Organisation und motivieren dazu, innovativer zu denken.


Lasten Sie Führungskräften damit nicht zu viel auf?

Nein, das denke ich nicht. Wir Menschen brauchen und wünschen uns Führung, so sind wir archaisch programmiert. In Tribes organisiert, noch im Wald lebend, waren wir auf Führungs-kräfte angewiesen, die klar kommunizieren konnten, ob noch ausreichend Essen da ist, ob wilde Tiere angreifen, ob zu fliehen oder zu kämpfen ist. Wir sind es gewohnt, uns an unseren Führungskräften zu orientieren, das steckt tief in unserem Gehirn. Dieses archaische Erbe bewegt uns auch als Gesellschaft, wie wir an unseren Wahlergebnissen sehen können. In vielen Unternehmen, Universitäten und Institutionen wird diese Form der Führung nicht geboten.

Wenn es um Innovationsfähigkeit geht, schauen wir am liebsten ins Silicon Valley. Können die Amerikaner besser kommunizieren als wir? 



Ja, die Amerikaner lernen schon im Bildungssystem, mehr aus sich herauszugehen. Etwas zu präsentieren, zu verkaufen und Feedback einzuholen. Wir in Europa neigen dazu, uns abzu-schotten. Das beginnt schon in der Schule, wenn man den anderen nicht abschreiben lassen will, damit er keinen Vorteil hat – auch wenn sein Abschreiben uns selbst ja gar keinen Nachteil bringt. Dieses Gefühl, sich abschotten zu müssen, ist europäisch und verhindert Zusammenarbeit.



Sind die Amerikaner kooperativer?



Ja, kooperativer und offener. Die haben ein offeneres und toleranteres Mindset, wobei wir nicht pauschal von Amerikanern sprechen können. Manche Regionen in den USA sind erfolgreicher, andere weniger. Das ist in Europa nicht anders. Unsere nordischen Staaten sind sehr innovativ, die Schweiz beispielsweise auch.


(Foto: „Innovationen können nur in Ökosystemen entstehen, die wie biologische Ökosysteme funktionieren.“ Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Machen Sie sich Sorgen um Europa?



Nein, Europa hat über 500 Millionen Einwohner, wir sind mehr als die Amerikaner. In seinem Vortrag über Video beim Weltwirtschaftsforum in Davos meinte Trump, wir Europäer wären so unfair. Was meint er denn damit? Er spielt darauf an, dass wir in Europa genau wissen, dass die Autos, die wir bauen, gut sind. Er spricht unser Selbstbewusstsein an und wir täten gut daran, es jetzt stärker zu zeigen. Wir haben viel Potential und meiner Meinung nach immer noch das bessere Bildungssystem als die USA oder China. Denken wir an die Leute, die im Silicon Valley künstliche Intelligenz entwickeln. Sie kommen aus Deutschland, Albanien, Polen und vielen anderen Ländern Europas. Leider setzen sie ihr Wissen in den USA um, weil wir ihnen nicht den nötigen Rahmen und die nötige Inspiration bieten können, um es bei uns zu tun. Wir haben Schwierigkeiten damit, attraktive Innovationsökosysteme aufzubauen und unser Potential in den Markt zu setzen. Daran müssen wir arbeiten.


Mit Trump, Musk und der amerikanischen Tech-Elite kommen viele Transhumanisten an die Macht. Was halten Sie vom Transhumanismus?



Ich teile die Geschichte der Transhumanisten, solange Technologie Lebensumstände verbessert. Aber unsere Zukunft müssen wir schon selbst gestalten. Ich halte nichts davon, das Maschinen zu überlassen.


Was für eine Geschichte braucht Europa?

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, haben sich seit Beginn der Menschheits-geschichte nicht verändert. Es geht immer um physische und Umweltbedürfnisse. Ich habe zwar viele Jahre in der Space-Industrie gearbeitet, aber ich glaube nicht, dass wir andere Planeten urbar machen werden. Wir haben nur diesen einen. David Attenborough hat richtigerweise bemerkt, dass es nur eine einzige Lebensperiode gedauert hat, um zu verstehen, wie schnell dieser Planet in die Knie geht. Wir brauchen eine Geschichte von der Diversität von Fauna, Flora und Menschheit, in der wir uns positiv 
und mit Freude mit den Grenzen unseres Planeten arrangieren.


Also spielt Europas Zukunft auf der Erde und nicht am Mars?



Meine Version unserer Zukunft spielt definitiv auf der Erde. 



Ludovit Garzik, vielen Dank für das Interview.



Liebe Leser:innen,

noch sprechen wir in den meisten Fällen von „künstlicher“ Intelligenz, doch an den Börsen wird schon auf die nächste Phase des neuen technologischen Superzyklus gesetzt, auf: „lebende Intelligenz“. Mit „lebender Intelligenz“ ist die Vernetzung künstlicher Intelligenz mit innovativer Sensorik und Bioingenieurwissenschaften gemeint. Sie wird Medizin, Landwirtschaft und Raumfahrt revolutionieren und zu weiteren neuen Formen von Intelligenz führen. Dieser Fortschritt, der in den nächsten Jahren spannende Veränderungen verspricht, droht angesichts globaler Machtkämpfe allerdings immer rücksichtsloser zu werden und das rückt eine lang ersehnte Vision mächtiger IT-Entwickler im US-amerikanischen Silicon Valley in erschreckende Nähe. Es ist die Vision eines transhumanistischen Menschen und seiner Superintelligenz. Über sie möchte ich mit Ihnen sprechen.



Superintelligenz: Nur noch eine Frage der Zeit.


Einige der reichsten und mächtigsten Männer der Welt, darunter Elon Musk (Tesla, SpaceX, Neuralink), Mark Zuckerberg (Meta, Facebook), Bill Gates (Microsoft, Bill & Melinda Gates Foundation), Jeff Bezos (Amazon, Blue Origin) oder Sam Altman (OpenAI) arbeiten seit Jahren an der Erschaffung einer Superintelligenz. Diese Superintelligenz ist Teil der Vision eines Menschen, der seine Evolution selbst in die Hand nimmt und mithilfe von künstlicher Intelligenz zum technologischen Übermenschen wird: zu einem transhumanistischen Menschen, der ins All aufbricht, um neuen Lebensraum zu besiedeln.



Das Problem mit der Superintelligenz.



Als Superintelligenz wird ein Computer oder ein biotechnologisches Mischwesen bezeichnet, das viel mehr weiß, kann und versteht als wir Menschen. Diese Superintelligenz soll helfen, alle möglichen Probleme zu lösen und unter anderem Krankheit, Alter und Tod zu beenden. Das klingt verlockend, aber die Geschichte hakt. Denn eine Superintelligenz muss, damit wir sie verstehen und ihr Superwissen überhaupt als solches erkennen können, menschlich denken. Die sogenannte Superintelligenz wäre also eine Supermenschenintelligenz.
Nun wissen wir, dass unser menschliches Denken voller unbewusster Prozesse und Projektionen ist und dass wir „Wissen“ immer in eine Erzählung von uns selbst einordnen. Diese Selbsterzählung ist ein Prozess, der ebenfalls unbewusst abläuft – zum Glück, sonst müssten wir uns ständig hinterfragen und das könnte Zweifel an unserem Wirtschafts-system säen und unser gesellschaftliches Machtgefüge destabilisieren: Bloß nicht!




Die Wahrheit über die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft



Die Wahrheit ist, dass dieser Prozess der Destabilisierung schon längst läuft, wir sind mittendrin. Wir nennen ihn die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und übersehen, dass es sich um eine Transformation der Menschheit handelt, denn die Begriffe „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ stehen stellvertretend für unser menschliches Denken und Handeln. Wir sprechen diese Tatsache nur nicht aus, weil insbesondere in Europa noch niemand überzeugend erzählen kann, was nach der Transformation kommt. Was kommt nach der Verwandlung? Was werden wir? Wie sieht die Geschichte unserer Zukunft aus? Die US-Geschichte mit der Superintelligenz und dem technologischen Übermenschen ist eine mögliche, allerdings rückt mit Donald Trump im Weißen Haus eine sehr aggressive, ja narzisstische Selbsterzählung ins Zentrum der transhumanistischen Vision und ihrer Superintelligenz. Das verheißt in einer Welt nervöser Atommächte nichts Gutes.

Europas größte Chance: ein neues Menschenbild!


Jede Selbsterzählung ist selbstgemacht. Das bedeutet, dass wir unser Menschenbild jederzeit verändern können. Nun haben wir Europäer den unschlagbaren Vorteil, einen reichen und vielfältigen historischen Fundus an Ideen und Konzepten zu möglichen Selbsterzählungen des Menschen zu haben. Wenn jemand gute Geschichten unserer Zukunft entwickeln kann, dann wir. Wichtig ist zu verstehen, dass es sich dabei nicht um einen philosophischen Ausritt handelt, sondern um ein Gebot der Stunde. Wenn es uns gelingt, Biodiversität, Alter und Multiversum, um drei Beispiele zu nennen, in eine inspirierende Geschichte zu verpacken, könnten wir zu einer geistigen Führungskraft der Erde werden und auch technologisch und marktwirtschaftlich unseren eigenen Weg gehen.

Aufbruch in die Zukunft Europas

Beseelt von dieser Hoffnung mache ich mich inmitten tiefer politischer Umbrücke mit Text, Mikrofon und Kamera auf die Suche nach der Zukunft Europas. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie in den Geschichten steckt, die wir uns erzählen - man muss nur genau hinhören. Meine Gespräche führe ich mit Menschen aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft und konzentriere mich dabei auf unsere menschliche Kreativität, Spiritualität und Sexualität. Was machen wir draus?

Ihr Gabriel Diakowski


Wolf Lotter ist Autor und Journalist mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation. Er war Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins "brand eins“ und ist seit 2022 iMitglied im Publikumsrat des ORF. Seine Bücher gelten als Grundsatzwerke in Sachen Innovation und Transformation und sind jeweils in mehreren Auflagen erschienen.


Wolf Lotter, machen Sie sich Sorgen um Europa?



Nein, allein schon deshalb, weil Europa kulturell und politisch sehr unterschiedlich 
ist – und wenn Sie auf Trump, Putin und Xi abzielen, dann könnten die als paradoxe Intervention ganz heilsam sein. Wir, die Wohlstandsnationen Europas, realisieren gerade, dass uns die USA und China gar nicht brauchen. Das bringt Bewegung ins Spiel und könnte endlich dazu führen, dass wir uns intellektuell anstrengen und Richtung Transformation bewegen.



Sie sagen „intellektuell anstrengen“. Scheitern unsere Transformationsprozesse 
an Faulheit?



Na klar! Wir sind, um mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zu sprechen, intellektuell faul geworden. Und jetzt kommt auch noch künstliche Intelligenz, die uns angeblich alle automatisch klüger macht, was eine sehr dumme Position ist. Das Muster ist immer dasselbe: Wir weisen Verantwortung und geistige Anstrengung strikt von uns. Das gilt für alle Bereiche der Transformation.



Wir starten mit „Die Geschichte unserer Zukunft“ ein digitales Medium zur Transform-ation von Wirtschaft und Gesellschaft und setzen auf drei Themen: Kreativität, Spirit-ualität und Sexualität. Was halten Sie davon? 



Sexualität und Spiritualität halte ich für Privatsache, eine persönliche Angelegenheit. Wenn es um Kreativität geht, haben Sie in mir aber einen sehr interessierten Gesprächspartner.


Bei Kreativität geht es unter anderem um Risikofreude. Man muss riskieren wollen, loslassen und die Kontrolle aufgeben können. Das sind alles Themen, die unsere Sex-ualität bestimmen. Würden Sie sich zum Thema Transformation einen Podcast mit einer Sexualtherapeutin anhören? 



Es kommt darauf an, wer spricht. Als junger Mensch habe ich mir gerne Gespräche mit Ernest Bornemann angehört, ich lese gerne Wilhelm Reich. Ich bin aber auch hier kein Freund pseudointellektueller Erregungszustände.

Ein Beispiel: Vielen Führungskräften ist nicht bewusst, dass sie Projektionsflächen für sexuelle Bedürfnisse sind – zum Beispiel die Vaterfigur. „Der Papa wird es schon richten“, denken viele und meinen mit Papa ihren Chef. Wirken sich solche Projektionen hemmend auf Transformationsprozesse aus?

Ja, aber ich würde in diesem Fall nicht von Sexualität, sondern sozialer Unverantwortlichkeit sprechen. Natürlich geht es vielen Angestellten um eine Verlängerung ihrer Kindheit. Sie wollen Überväter oder Übermütter, die ihnen sagen, dass alles gut wird und süße Träume wünschen. Diese Verlängerung der Kindheit wird von Unternehmen ja auch angeboten: Sie versprechen Sicherheit und Verlässlichkeit. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun.




(Foto: „Verlängerung der Kindheit“, Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Spiritualität ist für Sie Privatsache?

Ja. Wie definieren Sie denn Spiritualität?



Spiritualität ist das menschliche Bedürfnis, sich mit etwas Größerem als dem Körper zu verbinden. Gegenfrage: Was ist der Mensch?

Ja, was ist der Mensch? Gehen wir mal in die Ergebnisse: Kulturgeschichtlich betrachtet würde ich sagen: „Der eigentlich nicht immer so schlecht gelungene Versuch, sich das Leben leichter zu machen.“ 



Im Silicon Valley, dem Machtzentrum der US-amerikanischen Tech-Elite, träumt man von Transhumanismus, zu Deutsch „Übermenschlichkeit“. Was halten Sie davon?



Das kommt darauf an, wie man Transhumanismus versteht, es kann ja auch etwas ziemlich Richtiges bedeuten: Gegen technologische Vorstöße wie Prothesen oder Krebstherapien ist nichts einzuwenden. Das ist nützlicher Fortschritt. Aber es gibt im Transhumanismus auch eine technokratische, also ideologische und religiöse Ebene. 
Da wird davon gesprochen, die Seele zu dekodieren und unsterblich zu machen, indem man sie in eine Maschine überträgt. Das ist meiner Meinung nach Schwachsinn und eine klassische Technokratenidee, und Musk ist ein lupenreiner Technokrat. Menschen so gestalten zu können, dass sie nicht mehr fehleranfällig sind. Das ist eben purer Faschismus.


Hat der Mensch ein Bewusstsein?

Ja.

Haben Maschinen ein Bewusstsein?



Nein.


Die ideologische Elite, die jetzt mit Trump an die Macht kommt, hat andere Vorstellungen von Bewusstsein.



Nochmals: Leute wie Elon Musk oder Raymond Kurzweil (Zukunftsforscher und Chefent-wickler bei Google) sind Technokraten, Industriemanager, die streng deterministisch und mechanistisch denken. Aber das ist nichts Neues. Der klassische Industriemanager hat immer so gedacht. Henry Ford hat so gedacht, Technokraten denken seit 250 Jahren so. Sie sind nicht in der Lage, Menschen anders zu verstehen als die Werkzeuge, die sie erschaffen. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit einer Ökonomin geführt habe. Sie war fest davon überzeugt, dass das Gehirn eine Maschine sei. Zahnräder, die ineinander greifen.


Machen Sie sich keine Sorgen, dass solche Leute jetzt an die Macht kommen?



Die sind schon lange an der Macht! Sie sind ein Phänomen der Moderne. Es gibt nur unterschiedliche Eskalationsstufen.



Sie haben keine Angst vor Trump und Musk?


Nein, ich fürchte mich weder vor Musk noch vor Trump. Wissen Sie warum? Weil sie explizite Irre sind. Sie zeigen im Prinzip ja nur, dass es möglich ist, mit Irrsinn durchzukommen

Wie sollen wir handeln?


Das ist die einzige Frage, die mich heute interessiert. Es reicht nicht zu sagen, dass die Bösen da drüben sind. Wir müssen beginnen, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. 
Wir leben in einer unselbstständigen Kultur, in der es für die meisten Menschen normal ist, dass sie zur Schule gehen, eine Lehre machen oder studieren, arbeiten und dann in Rente gehen. Genau so eine unselbstständige Kultur braucht es, damit Leute wie Musk oder Trump groß werden können. Die liberalen Eliten – ich weiß, dass dieser Begriff nicht besonders beliebt ist – waren in den letzten Jahren, intellektuell betrachtet, einfach zu schwach auf der Brust. Es gab ein paar Sozialwissenschafter, die gute Arbeit geleistet haben, aber die sind leider am Rand geblieben. Es ist einfach zu wenig passiert, und wenn ich die Probleme, die es zu lösen gibt, nicht löse, dann bin ich ein Loser.



Und jetzt kommt KI: Wird alles besser? Oder schlimmer?



KI ist eine Phrase und vor allem eine Marketing-Idee. Was bekommen Sie denn, wenn 
Sie sich mit Sprachmodellen wie Gemini oder Chat-GPT auseinandersetzen? In Wirklichkeit bekommen Sie Antworten, die semantisch feiner formuliert sind als jene, die eine Suchmaschine wie Google liefert. Hinter KI stecken Algorithmen, die sich aus den Beständen des Webs alles Mögliche zusammenklauen. Das ist urheberrechtlich interessant, aber mehr nicht.

KI wird uns nicht erlösen?



Nein, nur Selbstverantwortung führt zu Selbstbestimmung. Alles andere ist Selbstbetrug.


Wie meinen Sie das?

Ich beschäftige mich seit 40 Jahren mit dem Thema Transformation und Wissensökonomie und beobachte immer dasselbe Muster: Wir fallen auf Pseudotechnologien rein. Wir warten auf den Wundercode. Das sind Erwartungen einer Wohlstandsgesellschaft, die glaubt, es gäbe eine Maschine, die alle unsere Probleme löst. Dasselbe gilt im Übrigen für die Digital-isierung. Was verstehen wir denn darunter? Wir verstehen darunter, Computer, Netzwerke oder Algorithmen, die wir für Organisations- oder Produktionstätigkeiten einsetzen. Damit nutzen wir sie aber nur als Werkzeuge, ähnlich wie einen Schraubenzieher oder eine Schere. Was hat denn das mit Transformation zu tun?


Unsere Digitalisierung hat nichts mit Transformation zu tun?


Nein, in den meisten Fällen nicht. Schauen Sie sich die Studien von Nobelpreisträgern wie Acemoglu an! Die Digitalisierung bringt kaum Produktivitätszuwächse. Das ist eine Tatsache. Ich finde Computer super. Aber vieles ist einfach eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wir bauen Computer, weil wir Computer bauen können, und wir sind damit so beschäftigt, nicht den Anschluss zu verlieren, dass sich niemand mehr fragt, warum wir das eigentlich machen. Mehr will ich gar nicht: Warum sagen. Und kritisch nachfragen. 




(Foto: „Warten auf den Wundercode“, Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Darf ich ehrlicherweise fragen, ob Sie uns Menschen nicht überschätzen? Wird das Schicksal der Menschheit nicht vielmehr von Dummheit bewegt als von Wahrheit?



Ja, das glaube ich auch. Aber die Krise wird dazu führen, dass Leute darüber nachdenken, wie sie ihre Miete bezahlen können. Es wird mit Sicherheit eine Katharsis geben, wir sind schon mittendrin. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich die aktuellen Entwicklungen gar nicht so schlecht finde, denn wäre es anders gekommen, hätte die Trägheit des Geistes noch größeren Schaden angerichtet. Jetzt haben wir die Irren sozusagen vor uns und sehen, was sie machen.

Sie haben Hoffnung?

Ja, ich setze und hoffe auf die bewussten und fähigeren Leute. Wir müssen liefern!


Wolf Lotter, vielen Dank für das Interview.


Peter Matthies begann seine berufliche Laufbahn bei Andersen Consulting, dem 
heutigen Accenture in Deutschland. Danach gründete er ein IT-Unternehmen, war 
bei führenden Private-Equity- und Venture-Capital-Firmen als Risikokapitalgeber tätig. Seine vielfältigen Erfahrungen führten zur Gründung des „Conscious Business Institute“ mit Sitz in Santa Barbara in Kalifornien und Dependancen in Paris und New York. Seit über 20 Jahren berät und begleitet er weltweit Führungskräfte und Organisationen. 
Hier erklärt der ausgewanderte Pionier, warum die meisten Transformationsprozesse scheitern und welche Rolle Psychics spielen können, um den Sprung aufs nächste Level zu schaffen.



Petr Matthies, Sie werden bestimmt mitbekommen haben, dass die meisten Transformationsprozesse in Österreich und Deutschland scheitern. Wir stecken tief in der Krise. 
Was läuft da schief?



Ich glaube, dass viele Menschen Change und Veränderung mit Transformation verwechseln. Transformation bedeutet, aus einem bestehenden System auszubrechen 
und ein neues System zu entdecken. Dieser Aufbruch in ein neues System macht sich als Bewusstseins-wandel bemerkbar. Wenn ich also beispielsweise in der Automobilindustrie entscheide, nicht mehr selbst zu produzieren, sondern die Produktion auszulagern oder mit einem anderen Material zu bauen, dann ist das eine Veränderung oder ein Change, aber noch keine Transformation. Die meisten Transformationsprozesse scheitern, weil die Menschen in Organisationen im selben Bewusstsein bleiben.


Erklären Sie das mit dem Bewusstseinswandel bitte näher.



Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Kopernikus hat zu seiner Zeit verkündet, dass die Erde rund und nicht flach sei. Das war ein einfacher Gedanke, aber er kam aus einem neuen Bewusstsein. Bis dahin dachten alle, die Erde sei flach und man müsse nach Osten segeln, um nach Indien zu kommen. Niemand wäre in den Westen gesegelt. Doch im neuen Bewusstsein öffnete sich mit einem Mal der Weg nach Westen – und plötzlich war Amerika entdeckt. Mit der Ent-deckung Amerikas brach ein neues Zeitalter an. Dasselbe erleben wir jetzt gerade. Wir erleben den Übergang in ein neues Bewusstsein, in dem sich neue Wege öffnen werden und diese Wege führen in eine Welt, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.


Was meinen Sie mit neuem Zeitalter?



Wir erleben gerade eine Welt im Umbruch. Dieser Umbruch ist Teil eines evolutionären Prozesses, in dem wir uns aus dem Zeitalter der Renaissance, der Aufklärung, der Industrialisierung oder zuletzt des Informationszeitalters herausentwickelt haben. Heute stehen wir am Beginn eines neuen Zeitalters, dem Zeitalter des Bewusstseins. Wir sehen Strömungen wie „Conscious Education“, „Conscious Living“, „Conscious Medicine“ oder „Conscious Eating“. Sie sind Schauplätze einer Transformation, aus der in den nächsten Jahren eine neue Welt entstehen wird.

Ich befürchte, dass Sie viele Menschen nicht verstehen. Für die meisten von uns heißt Business einfach „Geld verdienen“. Also: Arbeit, Arbeit, Arbeit, um ein schönes Leben zu haben. Wozu ein neues Bewusstsein? 


Die Frage ist, ob wir wirklich ein schönes Leben haben? Statistiken zeigen, dass 70 bis 
80 Prozent der Menschen keine Lust haben, da zu arbeiten, wo sie arbeiten. Die Zahl der Burnouts steigt, auf der persönlichen Ebene fehlt es an Zufriedenheit und Purpose. So gut wie jedes Unternehmen denkt darüber nach, wie es sich transformieren kann, und die meisten Unternehmen, mit denen wir sprechen, haben keine Ahnung, wie sie die Trans-formationen systematisch umsetzen. Auf globaler Ebene entflammen laufend neue Konflikte um Macht und Einfluss. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Aus der Wissenschaft heißt es immer dringlicher, dass wir die Grenzen des Planeten über-schreiten und unser Überleben gefährden. Ja, vielleicht fahren wir einen BMW. Aber ist die Welt damit wirklich in Ordnung?



Kann Deutschland Transformation? 


Ich glaube, dass die Mentalität in Deutschland eher Sicherheitsdenken fördert als trans-formatives Denken. Hier in den USA sagt man, dass Innovationen, die aus Deutschland kommen, einfach nur bessere Bürokratie sind. Aber ich bin trotzdem optimistisch, denn wir Europäer sind oft profunder. Die Menschen in Deutschland und Europa sind zwar in der Regel nicht so offen wie die Menschen hier in den USA, aber wenn sie sich öffnen, dann sind sie besser in der Lage, in die Tiefe zu gehen. Wir können die Dinge tiefgründiger und profunder angehen, weil wir als Europäer viel hinter uns haben. Das gibt mir Hoffnung.



Der spannendste Transformationsprozess in Deutschland findet bei der Bayer AG statt. Der neue CEO Bill Andersen setzt auf das Arbeitsprinzip „Dynamic Shared Ownership“: Teams werden nicht mehr um den Chef gruppiert, sondern um Kunden. Die Teamplayer treffen ihre Entscheidungen selbstständig, die obersten Werte sind Neugierde und Kreativität. Ist Bayer auf dem Weg zu „Conscious Business“?


Ja. Ich würde sagen, dass jeder Prozess, der Menschen zu ihrer genuinen Kraft kommen lässt und diese Menschen daraufhin das Unternehmen verändern, ein Prozess auf dem Weg in ein neues Bewusstsein, also Conscious Business, ist.

Ist das DOS-Modell bei Bayer ein „Conscious Business“-Modell?



Wenn Bill Anderson es bei Bayer AG wirklich schafft, dass die Menschen mehr Ownership übernehmen und mehr Selbstbewusstsein, Kreativität und Innovationskraft aufbringen, dann wird sich in dem Unternehmen auch was verändern. Dann ist diese Transformation eine Bewegung in Richtung Conscious Business. Aber unter uns gesagt: Ich hab so viele Unter-nehmer beteuern hören, dass sie Kreativität fördern oder auf Ownership setzen. Aber die entscheidende Frage ist doch, wie man 150.000 Mitarbeiter dazu bekommt, mehr Ownership zu übernehmen?


Und wie schafft man das?



Ich weiß nicht, was alles hinter dem DOS-Modell steckt. Aber die Frage, die sich bei jedem Modell stellt, ist, ob es Messbarkeit und Skalierbarkeit ermöglicht? Im Fall von „Conscious Business“ stehen wir vor der Frage, ob es möglich ist, Consciousness im Business zu messen? Denn erst auf Grundlage dieser Messung kann ich beginnen, gezielt Programme zu entwickeln und eine Organisation systematisch auf eine andere Bewusstseinsebene zu heben.


(Die Grafik zeigt das Modell, nach dem Peter Matthies Organisationen betrachtet.)



Und wie erheben Sie die Daten zur Analyse der Bereiche?


Wir haben einen Fragenkatalog entwickelt, mit dem wir genau abfragen können, wo ein Unternehmen in diesen fünf Bereichen steht. Es sind 64 Fragen.

Aber führt das Sprechen über Transformation wirklich zu Transformation? 
Aus meiner Sicht scheitern viele Prozesse daran, dass sie aus Lippenbekenntnissen bestehen. Man spricht die weisesten Worte, zitiert die schlauesten Köpfe, aber wenn's zur Sache geht, ist niemand da.



Das stimmt und ist ein entscheidender Punkt. Gespräche über Transformation bringen keine Transformation. Deshalb nutzen wir Hebel, um Transformationsprozesse in die Gänge zu bringen. Wir fragen zum Beispiel, woran die Menschen glauben? Oder ob es Gott gibt? Innerhalb von zwei Minuten entwickeln sich hochemotionale Gespräche, in denen sich die Menschen wirklich öffnen und ihre Emotionen zeigen. Ohne „Self-Leadership“ und die Fähigkeit, sich selbst in die Welt zu bringen – den ersten Bereich in unserem Modell – wird „Conscious Business“ schwierig. 



Sie bringen die Gottesfrage? Ist das nicht zu privat?


Nein, wir machen das auf eine sehr interessante und spannende Art und Weise. 
Wir haben ganz besondere Menschen, die diesen Prozess begleiten.


Psychologen?


Nein, wir bringen zum Beispiel "Psychics", die Readings machen.


Was sind "Psychics"? 



"Psychics" sind Menschen, die über eine Verbindung zu einer höheren Kraft verfügen. 
Sie sehen und sagen Sachen, die Sie umhauen. Ich hab das selbst erlebt. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit meinem Mentor hier in Kalifornien zusammen. Er ist ein Psychic. Ich habe mich damals vor ihn hingesetzt, ohne ihn zu kennen. In drei Stunden erzählte er mir, wer ich bin, wer meine Familie ist und warum wir Konflikte haben. Ich dachte „Holy Cow“, was geht hier an? Diese Begegnung hat mein Leben verändert.




(Foto: „Psychic“, Erstellt mit DALL-E von OpenAIi)



Und was tun Sie, wenn jemand nichts von "Psychics" hält?


Natürlich kratzen sich einige am Kopf. Aber diese Intervention ist immer ein Hit, 
weil sie uns dort trifft, wo auch Bewusstsein entsteht und ein Bewusstseinswandel möglich ist. Es gibt zwei Dinge, die aus meiner Sicht für „Conscious Business“ essentiell sind. Da ist zum einen der spirituelle Gedanke: Wir sind Seelen in einem menschlichen Körper. Und das bringt die zweite Sache ins Spiel, nämlich, dass es eine höhere Perspektive gibt. Dadurch kann ich zurücktreten und verstehen, dass es ein größeres Bild gibt. Ein Gedanke kann alles ver-ändern. Wie gesagt, wir können die neue Welt nicht aus unserer derzeitigen Welt sehen. Deshalb ist die spirituelle Intervention so wichtig.

Nennen Sie das auch offen eine spirituelle Intervention?


Nein, wir versuchen, das Wort Spiritualität zu vermeiden. Irgendwann kommt es von selbst hoch, aber es gibt einfach so viele Assoziationen mit diesem Begriff, dass wir vorsichtig mit ihm umgehen. Wir sprechen lieber davon, dass es eine höhere Führung gibt oder etwas, das höher ist als wir.



Das heißt, dass Sie Spiritualität nutzen, um Transformationsprozesse zu initiieren?

Ja. Was wir häufig machen, ist, gemeinsam mit Psychics Persönlichkeits-Assessments 
für Führungskräfte durchzuführen. Ein Psychic, der hier in Kalifornien sitzt, führt auf Grundlage eines Bildes der Führungskraft ein Assessment durch. Die Ergebnisse sind 
für die Führungs-kräfte so verblüffend, dass sie es oft nicht glauben können. Diese Erfahrung ist nötig, um zu den wichtigen Fragen zu kommen; Fragen wie die nach der Existenz einer höheren Kraft oder des wahren Grundes unseres Daseins. Sie kommen dann wirklich aus dem Herzen.



Ich denke, dass viele Menschen ihre spirituellen Erfahrungen eher im Privatleben machen als im Berufsleben. Glauben Sie, dass die Trennung zwischen Privat- und Arbeitsleben ein Hindernis ist, um Organisationen erfolgreich zu transformieren?



Ja, diese Trennung kann ein Hindernis sein. Aber auch bei spirituellen Interventionen ent-scheidet sich alles an der Frage, ob Sie es schaffen, eine Kontext-Konversation herzustellen, die alle Beteiligten führen wollen.



Was ist eine Kontext-Konversation?


Wir unterscheiden Content- von Kontext-Kommunikation. In einer klassischen Content-Konversation wird beispielsweise darüber gesprochen, ob der Blinker neu gemacht wird oder ob der Businessplan noch passt. In Kontext-Konversationen geht es um Fragen der Kultur; Fragen wie, wie man sich fühlt, was der gemeinsame Purpose ist oder wie man miteinander arbeiten will. Es geht um emotionale Themen, Gefühle und persönliche Befindlichkeiten. Damit tun sich viele Führungskräfte schwer. Sie wissen nicht, wie sie systematisch Kontext-Konversationen führen. Zur Unterscheidung zwischen Content- und Kontext-Kommunikation gibt es übrigens einen guten Spruch: „The right conversation in the wrong context is the wrong conversation.“

Wie lautet das wichtigste Learning aus Ihren 20 Jahren Beratung zu „Conscious Business“?



Das Wichtige ist, dass die Transformation oder das neue Bewusstsein von einer Führungs-kraft getragen wird. Eine Führungskraft muss die Stärke und das Rückgrat haben zu sagen, wofür wir stehen – auch und gerade wenn es mal holprig wird und die Menschen im Unternehmen unruhig werden.



Peter Matthies, vielen Dank für das Interview.


Mario Pricken ist seit über 20 Jahren der bekannteste Kreativitätstrainer im deutschsprachigen Raum. Die Liebe hat ihn vor sechs Monaten nach Villach geführt, wo er nicht nur mit KI-Anwendungen spielt, sondern auch mit dem Gedanken an einen kreativen Neustart. Im DGUZ-Interview erzählt er vom Ende der Business Creativity und was Villach dem Silicon Valley voraus hat.





Seit über 20 Jahren erklärst du Menschen, wie man kreativer denkt. Rückblickend gesprochen: Sind wir im Laufe der Zeit kreativer geworden?

Ich denke nicht. Aber ich habe fast ausschließlich mit Kreativen aus Creative Industries gearbeitet, also Menschen aus Marketing, Design, Packaging und so weiter. Wenn ich ganz ehrlich bin, war ein Großteil dieser Menschen immer nur bedingt, weil nur gestalterisch kreativ.



Halten wir uns etwa für kreativer, als wir sind?


Meine Aussage soll bitte nicht falsch rüberkommen: Viele von uns hätten viel mehr Potenzial, aber der Kunde ruft es nicht ab. Die Auftraggeber setzen den Frame, innerhalb dessen wir unsere Werke erschaffen. Wenn der Auftraggeber von vornherein schon in rückwärtsgewandten Kategorien denkt, kann man als Kreativer nicht mehr machen, als die Maus zu führen.


Es gibt unterschiedliche Verständnisse von Kreativität. Man kann sie als Fähigkeit zur Problemlösung verstehen; als Ausdruck von Neugier und Freude oder eines menschlichen Geistes, der sich entfalten will. Welches dieser drei Verständnisse teilst du?

Das erste, weil ich ja hauptsächlich mit Business Creativity zu tun habe. In den Creative Industries kommt jemand, der ein Problem hat und auf der Suche nach einer Lösung ist.


Und ganz persönlich gesprochen?



Ich persönlich verstehe unter Kreativität die Fähigkeit, Sinn, Wert und Bedeutung zu erschaffen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass uns Maschinen unsere wahre Kreativität abnehmen können. 
Glaubst du, dass es einen menschlichen Geist gibt, der sich mit Kreativität auszudrücken versucht?

Ich bin definitiv der Meinung, dass es das gibt. Es ist dieses tiefe Bedürfnis, sich in einer gewissen Form auszudrücken, ob in der Musik, Malerei oder der Mode. Aber damit werden wir ja nicht beauftragt.



Welche Form der Kreativität kann uns KI abnehmen?



Genau die, mit der ich zu tun hatte: Business Creativity.

Heißt das, dass KI vor allem die Creative Industries bedroht?



Ja, für uns Kreative in den Creative Industries ist KI eine enorme Bedrohung. Denken wir einfach daran, dass in Marketingabteilungen Logos, Packaging-Entwürfe und so weiter ab sofort auf Knopfdruck in allen möglichen Stilen – von Da Vinci bis Keith Haring – mit KI erstellt werden. Wenn das so ist, und ich halte das für sehr wahrscheinlich, ist Business Creativity tot.



Wie kreativ kann KI werden?


Teilweise schockiert mich die Maschine immer noch. Auch deshalb, weil sie sich so schnell weiterentwickelt. Aber die Entwicklungen sind auf ein sehr enges Feld beschränkt. Es ist das Feld, in dem die Maschine kopieren und wiederholen kann. Wenn KI kreativ ist, dann immer mit dem Blick in den Rückspiegel.


Was können Kreative, was KI nicht kann?



Stell dir vor, ich leere eine Kiste mit 200 Legosteinen vor dir aus und du kannst sie beliebig kombinieren. Diese Kombinationen kann jede Maschine besser und schneller, denn es gibt einen bestimmten Rahmen, innerhalb dessen du dich bewegen musst. Dieser Rahmen ist die Form der Legosteine. Unsere menschliche Kreativität beginnt dann, wenn wir die Legosteine eingießen und neue Formen und Funktionen entwickeln. Sobald wir das tun, schaffen und betreten wir neue Felder.


(Foto: "Ein von Menschenhand geschwungener Legostein", Erstellt mit Dall-E von OpenAI)



Wo können wir neue Felder schaffen?



Überall dort, wo wir Angst vor Irrtümern, Fake News, Halluzinationen, Pornografie oder Kriminalität haben. Hier liegt der Rahmen und der wird enger und enger. Die Zukunft unserer Kreativität liegt im Mut, die Regeln zu brechen und neue Felder zu betreten; frecher, mutiger und provokanter zu sein.

Drängt uns KI dazu, Tabus zu brechen?

Ich denke im Moment viel über diese Frage nach und glaube, dass sie sich an Generationen entscheidet. Wenn wir zwei uns über Tabubrüche unterhalten, finden wir bestimmt schnell in eine gute Unterhaltung. Aber wenn ein Dritter, der gerade 20 geworden ist, in die Runde käme, würde er uns wahrscheinlich doof, anstößig oder ekelig finden. Eine Sendung von Harald Schmidt aus dem Jahr 2003 dürfte das ZDF heute nicht mehr ausstrahlen. Das würde Stürme der Entrüstung auslösen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir uns auch gesellschaftlich in ein engeres Korsett zwängen. Insofern passt KI gut in unsere Zeit – und sie spiegelt sie auch gut.



Moralisieren wir unsere Kreativität zu Tode?



Die Tatsache, dass wir so stark moralisieren, führt zu einer Verengung des Spielraums dessen, was sein darf und was nicht. Heute darf man niemanden mehr verärgern oder diskriminieren. Das führt zu einer Verengung im Dialog, in der Gesellschaft und auch in der Kommunikation von Unternehmen. Ich glaube, dass es im Marketing Leute gibt, die KI nutzen und die Beschränkungen gar nicht bemerken. Die kommen gar nicht auf die Idee, die Grenzen auszutesten, weil sie sich diese Limitierungen von vornherein schon selbst setzen. 


Das klingt nach einem psychologischen Schachmatt. Auf der einen Seite wird das Korsett immer enger, auf der anderen Seite predigen alle, dass KI uns kreativer macht.



Ja, gut gesagt. Die Frage ist, auf welcher Ebene uns KI kreativer macht? Nehmen wir als Beispiel Bilder her. Die Geschwindigkeit, in der ich heute Bilder erstellen kann, steigt um Faktor 100 bis 1000. Die Beschleunigung führt zu einer Erhöhung der Qualität der Bilder. Schau dir mal die Bilder an, die du von KI-Apps wie Flux bekommst. Ich sag das jetzt bewusst bösartig: 40 % aller österreichischen Profifotografen haben keine Chance mehr gegen KI-Bilder. Dieser Qualitätsanstieg führt dazu, dass das Gesamtlevel der Qualität von Bildern steigt, wobei es sich aber um eine immer bessere Qualität der Wiederholung, der Wiederholung, der Wiederholung handelt. Wir werden also nicht kreativer deswegen. Trotzdem ist es faszinierend zu sehen, wie todgerittene Klischees ein Qualitätslevel erreichen, das man bei vielen Kreativen einfach oft vermisst. Egal, ob es die Handillustration ist, die Fotografie oder der Videoschnitt.



Schaffen diese Optimierungen der Optimierungen einen hyperrealistischen Stil?


Ja, es ist eine Hyperrealität, in der wir auf der Ebene der Gestaltung immer neue Level erreichen.

 Was kann KI nicht?

 Was KI nicht kann, ist zu erkennen, was im Zuge des gesellschaftlichen Wandels Sinn, Wert und Bedeutung erzeugt. Das können nur wir. KI kann auch nicht absichtslos kreativ sein. Ich versuche, meine KI ja immer kreativer zu machen, mit Kreativmethoden und so. Es ist unmöglich, ihr beizubringen, nicht sinnvoll zu sein. Sie will immer klug sein. KI ist der größte Klugscheißer der Welt. Und wenn sie einmal etwas nicht weiß, beginnt sie zu erfinden. Ist das nicht faszinierend? Bevor sie zugibt, etwas nicht zu wissen, lügt sie lieber.


(Foto: "Screenshot einer Anfrage bei ChatGTP")



Wie siehst du deine Zukunft als Kreativer? What’s next?



KI wird zweifelsohne zur Plattform aller Plattformen. Insofern führt kein Weg an ihr vorbei. (lacht) Aber ich kann mich noch erinnern, als Google rauskam: Weißt du, was Leute da angeboten haben? Es gab Seminare, in denen man lernen konnte, wie man auf Google sucht. Heute sagen wir prompten dazu. In zwei Jahren können das alle …

Also setzt du nicht auf KI?



Ich bin mir noch nicht sicher. Ich glaube, dass die machttektonischen Verschiebungen zwischen den USA und China zur Grundlage allen wirtschaftlichen Geschehens der nächsten Jahre werden. China will wieder zur größten Handelsmacht der Welt aufsteigen und den, wie sie sagen, natürlichen Zustand der Dinge herstellen. Die USA sagt, dass sie die Nummer 1 bleibt und bis an die Zähne bewaffnet ist. In diesem Szenario scheint mir Regionalität und der Rückzug auf eine Region eine sehr attraktive Option zu sein. Außerdem sehe ich im Zusammenhang mit KI ein paar Entwicklungen, die ich nicht gut finde und die mir auch Angst machen. Silicon-Valley-Startups haben alle dieselbe Logik in sich: klein anfangen und dann den Weltmarkt übernehmen. Nehmen wir ein langweiliges Beispiel: eine Buchhaltungssoftware. Die startet mit Buchhaltung und übernimmt dann, weil sie so erfolgreich ist, auch Marketingfunktionen; im nächsten Schritt die Eventplanung, dann die Projektplanung, dann die ganze Marketingabteilung und schließlich auch noch die Produktentwicklung. Diese Logik ist wie Fußpilz, ein schwarzes Loch, das alles sein will. Wo ist dann noch Platz für uns?



Wie lautet deine Antwort?



Ich bin am Überlegen, ob ich mir hier in Villach (Kärnten) nicht etwas Neues aufbaue.


Was kommt in einer Welt der Regionalität auf einen Kreativen zu?

So wie ich es sehe, machen die Konzerne das Weltbusiness und versorgen die Menschheit mit den grundlegenden Dingen. Einen Airbus können wir hier in Villach ja nicht bauen. Uns Kreativen bleibt das Nischengeschäft. Und ich glaube, dass da viel Potenzial drinsteckt. Denn wenn ich ein gutes Kärntner-Gstanzl-Festival mache, bei dem die besten Kärntner-Gstanzl-Sängerinnen auftreten, dann hat das Silicon Valley keine Chance. 


Und was muss man als Kreativer, der dieses Gstanzl organisiert, können?



Man muss in die Geschichte des Ortes eintauchen, seine Wurzeln und Vergangenheit kennenlernen und von dort eine Brücke in die Zukunft schlagen können, und zwar so radikal wie möglich, also zum Beispiel mit KI. Dann hat die Sache nicht nur Zukunft, sondern ist auch unfälschbar.

Mario Pricken, vielen Dank für das Interview.


Mag. Dr. Paul M. Horntrich war Universitätsassistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und lehrt heute als Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Sexualitäten.





Paul M. Horntrich, Sie sind Sexualhistoriker. Womit genau beschäftigen Sie sich?



Wir beschäftigen uns mit menschlichen Sexualkulturen. Wir erforschen, wie man Sexualität im Kontext bestimmter Epochen thematisiert, das heißt:


- Welchen Stellenwert nimmt Sexualität in einer Gesellschaft ein?
- Wie geht man politisch mit ihr um?

- Welches Wissen wird rund um Sexualität produziert?

- Wer produziert dieses Wissen?

- Wie wird es unter Menschen gebracht und reguliert?


Ist Sexualgeschichte wirklich eine wissenschaftliche Disziplin?



Ja. Vielen ist nicht bewusst, wie viel in einer Gesellschaft über Sexualität ausgehandelt wird. Da geht's nicht nur um Moralvorstellungen, Geschlechterrollen oder Selbstbilder. Es geht auch um die Frage, worüber man überhaupt sprechen darf; wer sprechen darf und wie. Soll Sexualwissen ein Geheimwissen sein oder demokratisiert werden? Was an Sexualität soll verboten oder reguliert werden? Solche Fragen definieren ganze Gesellschaften.


Wie definieren Sie Sexualität?



Für einen Sexualhistoriker ist Sexualität ein Knotenpunkt, an dem große Themen einer Gesellschaft zusammenlaufen. Es ist ein Punkt, an dem unterschiedliche Meinungen, Moralvorstellungen und Rechtsauffassungen aufeinanderprallen. 



Welche Rolle spielt pornografisches Material in Ihrer Forschung?



Wie groß die Bedeutung von pornografischem Material ist, erkennt man daran, dass der Zugang zu ihm so gut wie immer eingeschränkt war. Es enthält Sexualvorstellungen, Bildwelten, Wünsche und vieles mehr von dem, was die Menschen in einer Gesellschaft bewegt. 



Und was verstehen Sie unter Pornografie?



Pornografie, wie wir sie verstehen, hat in der Regel mit einer Grenzübertretung zu tun. Es wird etwas gezeigt, was nicht oder nur in einem bestimmten Rahmen gezeigt werden darf. Was genau das ist, variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft.



Wann beginnt die Geschichte der Sexualität offiziell?



Sexualität begleitet uns seit jeher, aber über weite Strecken fehlen uns Quellen. Wir sehen im Altertum erste Vorstellungen, die unsere Geschichte nachhaltig prägen. Reinheitsvorstell-ungen zum Beispiel oder manichäische Vorstellungen von Licht und Dunkelheit, die bis heute nachwirken. Auch platonische Ideen wie die Vorstellung des Menschen als ein Kugelwesen, das in zwei Hälften, eine männliche und eine weibliche, geteilt wurde, sind bis heute in unserem Denken über Sexualität aktiv.





(Foto: „Pornografie zeigt, wo die Grenzen einer Gesellschaft verlaufen." Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Können Sie mir drei Beispiele aus Ihrer Forschung geben?



Wenn wir uns beispielsweise pornografische oder sexualisierte Darstellungen aus der Antike ansehen, finden wir häufig Darstellungen des Phallus oder Priapus (griechischer Gott der Fruchtbarkeit). Daraus lesen wir unter anderem die Bedeutung von Fruchtbarkeit für eine Gesellschaft. Fruchtbarkeit war nicht nur für die menschliche Fortpflanzung zentral, sondern auch im Bereich der Landwirtschaft, wo man sehr von Wind und Wetter abhängig war. Eine längere Periode mit schlechtem Wetter und eine ganze Gesellschaft musste ums Überleben kämpfen. Diese Abhängigkeit von Fruchtbarkeit schlägt sich in den vielen sexualisierten Darstellungen nieder. Zur Zeit der Revolutionen des 18. Jahrhunderts boomen auf einmal pornografische Pamphlete. Es waren oft einfache Druckschriften in Form von kurzen Bildgeschichten, in denen vor allem gekrönte Häupter, Fürsten oder auch Napoleon auftauchen. Diese Pamphlete zeigen, wie bewegend die politischen Ereignisse damals gewesen sein mussten. Und im Skandalroman „Josefine Mutzenbacher“ aus dem frühen 20. Jahrhundert erkennen wir neben den pornografischen Schilderungen eine sozialkritische Erzählung vom Groß-stadtelend, in dem große Teile der Bevölkerung in Armut und unter fürchterlichen Bedingungen lebten.



Gibt es in der Geschichte der Sexualität eine Epoche, die heraussticht?



Ja, eindeutig unsere. Wissenschaftliche Aufklärung und technologischer Fortschritt haben unser Bewusstsein von Sexualität derart verändert, dass wir heute eine Sexualität leben können, die mit Fortpflanzung nichts mehr zu tun hat. Denken wir an Verhütungsmittel, insbesondere die Pille. Noch nie konnten Menschen ihre Fertilität und Fortpflanzung so gut planen und kontrollieren wie heute.



Heute hat Pornografie viel mit dem Internet und neuen Technologien zu tun. Was lesen Sie daraus?

Pornografie nutzt interessanterweise immer schon die modernsten Technologien. Das beginnt bei Höhlenmalereien, reicht historisch betrachtet über fein bemalte Vasen in der Antike, Buchmalerei im Mittelalter bis zu Buchdruck, Fotografie, Film oder jetzt eben künstlicher Intelligenz. Sobald ein neues Medium aufkommt, beobachten wir sofort pornografische Darstellungen. Was das bedeutet, lässt sich pauschal nicht beantworten.


(Foto: „Soll Sexualwissen Geheimwissen bleiben?“ Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Wodurch zeichnet sich die Pornografie in unserer heutigen Gesellschaft aus?



Durch eine sehr freizügige, ja fast schon anatomische Beziehung zum Körper. Wir sehen auf jeder einschlägigen Plattform, dass Pornografie sehr explizit geworden ist. Dieser Trend reicht bis zur Großaufnahme in den Körper hinein.



Können Sie die politische Spaltung, die wir in westlichen Gesellschaften gerade erleben, auch sexualhistorisch aufschlüsseln?

Im Wesentlichen geht es heute um unterschiedliche Zuschreibungen. Sexualität pendelt zwischen biologischer Funktion auf der einen Seite und Lustgewinn und Selbsterfahrung auf der anderen. Links der Mitte ist man stolz auf alles, was in den letzten Jahrzehnten in puncto Gleichstellung, Gender-Gerechtigkeit und Reproduktionsrechte erreicht wurde. Für dieses Lager hat Sexualität mit Identität und der Verwirklichung des Individuums zu tun. Rechts der Mitte argumentiert man kollektivistisch und stellt die Stärkung der Gruppe, auch in Form der Nation, in den Vordergrund. Hier zählt wenig, wie lustvoll oder stimulierend Sexualität empfunden wird. Sexualität soll in geordneten Bahnen ablaufen und Bevölkerungswachstum bringen.



In den USA wird aber zugleich Individualismus und biologisches Verständnis von Sexualität gefordert. Was ist da los?



Der moderne Populismus, wie ihn die Trump-Administration repräsentiert, unterläuft die Links-Rechts-Zuteilungen. Leute wie Musk sind geschickt darin, Medien, die auf Individuali-smus abzielen, zu nutzen, um konservative Botschaften zu verbreiten. Am Ende dürfte 
es sich um eine Kombination unterschiedlicher Strategien handeln, um einen bestimmten Willen durchzusetzen.


Gab es sexualhistorisch schon mal eine Epoche, in der die Gesellschaft ähnlich gespalten war wie wir heute?

Nein. Wir haben uns in den letzten 100 Jahren ein Bewusstsein von Sexualität erarbeitet, das historisch gesehen einzigartig ist.



Erkennen Sie in unserer heutigen Einstellung zur Sexualität Muster, die wir in die Zukunft übertragen könnten?



Ich denke, dass wir auch weiterhin eine Medialisierung von Sexualität erleben werden. Sexualisierte Darstellungen reichen mittlerweile in alle möglichen Bereiche der Popkultur, einschließlich die Selbstinszenierungen auf Social Media. KI wird bestimmt ein großes Thema werden, um neue Bildwelten zu generieren. Generell ist eine starke Technologisierung von Sexualität zu beobachten, aber die haben wir ja heute schon, ob in Form von Verhütungsmitteln, Pornografie im Internet oder Sexspielzeugen.


Können Sie sich vorstellen, dass wir demnächst ideologisch motivierte „Nationalpornos“ sehen?



Nein, das glaube ich nicht. Die Pornografie ist ein Medium, das versucht, geltende Verhält-nisse zu unterlaufen. Ich glaube deshalb, dass es eher zu einer Fetischisierung von Ethnie kommt und einer Sexualisierung des Fremden. Da gibt es bereits Vorläufer wie den arab-ischen Porno, der eine eigene Kategorie geworden ist, oder den Hijab-Porno. Vielleicht sehen wir demnächst vermehrt klassische Trump-Anhänger, die mit Latinas in verfängliche Szenen kommen. Das würde der Logik der Pornografie entsprechen.

Wie sieht denn ein Porno der Zukunft aus? 


Der Porno der Zukunft wird von KI generiert sein. Da spielen die Leute all das ein, was sie sich wünschen, und lassen sich von KI ein Video ausgeben, das genau diese Wünsche befriedigt. Teil dieser neuen und künstlichen Bildwelten dürften unter anderem irreale Körperpro-portionen und Techniken sein, die nur ohne Schwerkraft funktionieren.'

(Foto: „In Hentai-Pornografie löst sich die Schwerkraft auf.“ Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Eine Auflösung der Schwerkraft? 



Ja. Man kann sie gut an Hentai (neue Kategorie von Pornografie) erkennen, einem boomenden Porno-Genre, das besonders bei jungen Menschen sehr beliebt ist. Da kommt es zu teilweise absurden Koppelungen von sehr kleinen Menschen und riesengroßen, meist Frauenfiguren. Das, was dann gezeigt wird, klappt über weite Strecken rein physikalisch gar nicht mehr! Aber in Hentai ist es möglich. Wir sehen Körper, die nur mehr so um sich herum kreisen, und es gibt keine Beschränkungen durch die Schwerkraft. Diese Ästhetik kann man mit KI sicherlich noch weiter treiben.

Paul M. Horntrich, vielen Dank für das Interview.


Brigitte Moshammer-Peter ist Psycho- und Sexualtherapeutin. Sie ist Lehrbeauftragte an der Sigmund Freud Privatuniversität und Vorstandsmitglied der österreichischen Gesellschaft für Sexualwissenschaften. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, kocht gerne und liebt Hörbücher.


Frau Moshammer-Peter, Sie beschäftigen sich in Ihrer sexualtherapeutischen Praxis mit Macht und Sexualität. Was verstehen Sie unter Macht? 


Macht ist für mich immer gegebene Macht. Jemand muss mir Macht geben, damit ich Macht habe. Führungspersonen haben erst Macht, wenn Mitarbeiter:innen sie ihnen geben.


Was braucht es, damit man mir als Führungskraft Macht gibt?



Damit Sie Macht bekommen, müssen Sie ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Sie müssen etwas ausstrahlen, damit ich mit Ihrer Machtnahme einverstanden bin. Zum Beispiel müssen Sie ausstrahlen, stark genug zu sein, um die Führung zu übernehmen; oder gewissenhaft genug, um Ihre Macht nicht zu missbrauchen.



Was noch?



Vertrauen. Sie müssen Vertrauen erwecken können, damit ich Ihnen Macht gebe. 
Ich muss darauf vertrauen können, bei Ihnen sicher zu sein. Erst in dieser Sicherheit, und das ist besonders in der Sexualität wichtig, kann ich experimentierfreudig werden. 



Wie definieren Sie Sexualität? 



Sexualität hat für die meisten eine biologische Bedeutung, lässt sich aber nicht auf Geschlechtsorgane reduzieren – außer man erklärt das Gehirn zum größten Geschlechtsorgan unseres Körpers. Sexualität wird hormonell gesteuert und bestimmt. Sie ist etwas Emotionales, aber nicht zwingend mit Nähe verbunden. Im Prinzip umfasst Sexualität alle Handlungen, die in Wechselwirkung mit Lust, Angst, Neugier und vielen anderen Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen stehen. Sie hat mit Körperlichkeit zu tun und mit dem, was ich körperlich zum Ausdruck bringe. Sport hat beispielsweise viel mit Sexualität zu tun. Viele Menschen berichten von orgasmusähnlichen Gefühlen, vom ersten Orgasmus beim Radfahren zum Beispiel.




(Foto: "Studien zu sportinduzierten Orgasmen legen nahe, dass ein Orgasmus kein sexuelles Ereignis sein muss." Erstellt mit Dall-E von Open AI)



Sie haben in Zusammenhang mit Macht jetzt drei Begriffe erwähnt: Gewissen, Stärke und Vertrauen. Welchen davon verbinden Sie am schnellsten mit Sexualität?

Vertrauen. Ich brauche Vertrauen, um mich bei Ihnen fallen lassen zu können; Vertrauen, dass Sie es gut mit mir meinen. Aber auch Vertrauen in mich selbst; Vertrauen, dass ich Grenzen setze, wenn es mir zu viel wird, sich nicht mehr gut oder stimmig anfühlt.



Welche Assoziationen weckt das Begriffspaar Sexualität und Führung?



Da fällt mir natürlich erst mal BDSM ein. Wenn ich mir in meiner Führungsposition zum Beispiel ohnmächtig oder ratlos vorkomme, könnte ich meine Ohnmacht in der Sexualität in Macht verwandeln. Vielleicht versuche ich als Führungskraft, die sich ohnmächtig fühlt, in der Sexualität sehr dominant zu sein, um in diesem Erlebnisraum wieder die Führung zu übernehmen. Auch das umgekehrte Szenario ist möglich.



Was halten Sie von der Vorstellung, dass jede Führungskraft eine Projektionsfläche für bestimmte sexuelle Inhalte oder Rollen ist? Zum Beispiel für die Rolle des Vaters, der Mutter, des Geliebten oder der Rivalin?



Ich glaube, dass diese Vorstellung zutrifft. Die Frage ist nur, ob sich Führungskräfte dessen bewusst sind und wie sie mit den Projektionen umgehen. Mir fällt aber auf, dass Sie nur positive sexuelle Projektionen genannt haben. Es geht auch andersrum, man kann genauso eine sexuelle Aversion gegen eine Führungskraft haben. Mir könnte vor meinem Chef ekeln, auch das ist möglich. Aber Sie haben recht: Macht hat etwas Erotisches und damit ist jede Führungsposition in gewisser Weise sexuell besetzt. 
Als Therapeutin finde ich aber eine andere Frage spannender, nämlich die, ob ich mich in einer Führungsrolle selbst erotischer erlebe als sonst?



Und?



Das kann man nicht pauschal beantworten.


(Foto: "Erlebt man sich in Führungsrollen erotischer?" Erstelle mit Dall-E von OpenAI)



Blicken wir in den Wirtschaftsalltag. Was versteht eine Sexualtherapeutin unter Transformation?




Transformation heißt für mich Veränderung. Transformation erlebt man in meinem Beruf unglaublich oft. Das ist dieses Aufbrechen der eigenen Krusten, um den Menschen rauszuholen, der ich wirklich bin. Dieser Prozess hat oft mit Sexualität zu tun, aber nicht jeder Mensch wählt eine Sexualtherapie, um sich zu verändern. Auf jeden Fall wirkt sich eine persönliche Transformation auch aufs Berufsleben aus, weil sie idealerweise zu mehr Offenheit und Individualität führt.


Viele Transformationsprozesse scheitern, weil Menschen Angst haben, sich zu verändern und loszulassen. Sie haben Angst, etwas Neues auszuprobieren.

Ja, das erlebe ich in meiner Praxis jeden Tag. Ich würde sogar sagen, dass wir gerade eine zweite sexuelle Revolution erleben. Viele Menschen in meiner Praxis stellen sich die Frage, wie sie ihre Beziehungen und ihre Sexualität leben wollen. Ist Monogamie ein Auslaufmodell? Und wenn wir Sexualität offen leben wollen, wie gestalten wir sie? Wie geht man mit Eifersucht um? Wie mit Unsicherheiten? Das sind entscheidende Fragen in der Begleitung meiner Klientinnen, die enorme Auswirkungen auf die Transformation unserer Gesellschaft haben.



Kann sich ein Mensch transformieren, ohne seine Sexualität zu reflektieren? 




Ich denke, dass man in einer Transformation über alle Lebensbereiche nachdenkt. 
Über Paarbeziehungen, Freundschaften, das Verhältnis zur Familie, die Einstellung zur Religion und so weiter. Irgendwann kommt die Frage nach Sexualität dazu, weil sie in alle unsere Beziehungen hineinspielt. Sexualität ist für unser Menschsein zentral. Ob ich meine sexuelle Reflexion kommuniziere, steht aber auf einem anderen Blatt.

Wie geht man als Führungskraft bewusst mit Sexualität um?


Ich kann Führungskräften vor allem empfehlen, neugierig auf ihre Mitarbeiter:innen zu sein und sie zu fragen, wer sie sind, was sie können und welche Ideen sie haben. 
Da bilden sich viele Parallelen zum Erleben von Sex, der ja nur gut und spannend werden kann, wenn ich mit meinem Gegenüber kommuniziere: Wer bist du? Worauf hast du Lust? Nach dem Motto: Lass uns gemeinsam probieren, wohin es führt.



Hängen Neugier und Sexualität zusammen?



Natürlich, Neugier treibt an und schafft Lust am Experiment. Ich denke, dass man in Transformationsprozessen viele neugierige Menschen braucht. All die sprudelnden Geister und Unangepassten, die Troubles machen. Die würde ich als Führungskraft in meinem Team wollen. Wer sonst soll das Ruder rumreißen? Ich glaube, dass Führungskräfte, die an der Transformation einer Organisation arbeiten, gut beraten wären, Menschen zu ermutigen, das zu leben, was sie sind und was sie wollen. Was hat uns denn als Menschheit vorwärtsgebracht? Es waren Ideen. Und Durchmischung.



Es gibt in der Wirtschaft viele Menschen, die einfach nur Dienst nach Vorschrift machen. Was sagen Sie denen?



Ich entschuldige mich bei allen Beamten, die mit Herzblut bei der Sache sind. Aber am Klischee ist was dran: Je enger das Korsett ist, in das ich mich zwänge, desto frustrierter bin ich, weil ich meine Individualität nicht leben kann. Nur dort, wo Leute am Arbeitsplatz ihre Individualität leben können, findet man zufriedene Mitarbeiter:innen. Das hat neuerdings unter dem Begriff "Mental Health" neue Relevanz bekommen.




(Foto: "Mit dem Begriff "Mental Health" bekommt Sexualität eine neue Relevanz", Erstellt mit Dall-E von OpenAI)



Kann man im Beruf veränderungsresistent bleiben und zu Hause trotzdem ein erfülltes sexuelles Leben haben?

Nein, aber Menschen, die im Beruf immer dasselbe machen und nichts verändern wollen, können sich zu Hause auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Sexualität einigen. Ihre Frage amüsiert mich, weil sie offenbar voraussetzen, dass das Sexualleben der Menschen lustvoll ist. Das kann ich nicht bestätigen. Viele Menschen wollen sich nicht verändern und sich auch nicht anstrengen. Aber ich denke, dass unsere Gesellschaft solche Menschen auch braucht. Nehmen wir den Busfahrer. Ich möchte nicht, dass sich mein Busfahrer verändert, sondern dass er wie gewohnt an jeder Haltestelle Halt macht. 



Passenderweise sind Routineberufe genau jene, die am ehesten von Maschinen und KI ersetzt werden. 



Ja, die neue U5 fährt zum Teil automatisch, habe ich gehört.

Hat diese Routine, die Sie beklagen, mit Monogamie zu tun? Brauchen wir zur Transformation mehr selbstbewusste und individualisierte Singles?



Das würde ich so nicht sagen. Wir brauchen Menschen, die sich trauen, das zu leben, was sie sind. Mir ist es egal, ob sie als Singles oder in einer Paarbeziehung leben; ob sie Poli sind oder in offenen Beziehungen leben, darum geht es nicht. Es geht darum, sich zu fragen, was ich will – und das zu leben.


Ist eine Führungskraft, die Lust ausstrahlt, erfolgreicher als eine Führungskraft, die keine Lust ausstrahlt?

Eine Führungskraft, die Lust ausstrahlt, holt sicher mehr Mitarbeiter:innen ab. Lust wirkt attraktiv, Lust wirkt anziehend. Ich denke, dass man vor allem in Innovationsprozessen Menschen braucht, die Lust haben, sich zu erproben und Risiko einzugehen. Die gerne ausprobieren, ohne zu wissen, ob es ihnen gefällt oder wozu es führt. 
Das kann auch in der Sexualität sehr förderlich sein.


Kann man eine Organisation von Menschen transformieren, ohne Sexualität zumindest anzusprechen?

Ich glaube, dass man hinschauen sollte, wie in Organisationen mit Sexualität umgegangen wird. Wie gehen wir mit Geschlecht um? Wo gibt es sexuelle Energien? Was machen wir mit ihnen? Sprechen wir sie an? Und wenn ja, wie? Mit Humor? Wie kanalisieren wir sie? Wie machen wir sie bewusst?



Viele Studien und Befragungen von Manager:innen kommen zum Schluss, 
dass fehlende oder mangelnde Kommunikation das größte Problem in Transformationsprozessen ist. Sind wir sprachlos geworden und haben das Kommunizieren verlernt? Oder vermuten Sie andere Gründe?



Ich vermute mangelnden Mut. Traue ich mich, etwas anzusprechen? Traue ich mich, etwas einzufordern? Traue ich mich, meine Ideen rüberzubringen? Traue ich mich, zu sagen, dass ich die Idee nicht gut finde? Dass ich vielleicht eine bessere Idee hätte? 



Hat Mut etwa auch mit Sexualität zu tun?

Absolut. Ich brauche Mut, um mich zu zeigen, wie ich bin, meine Wünsche zu äußern. Grenzen zu setzen. Ich brauche Mut, um mich anderen zuzumuten – mit all meiner Körperlichkeit und meinen Gerüchen. Stellen wir uns Sex ohne sexuelle Erregung vor: 
Da ist ein anderer Körper, der riecht und aus dem Körperflüssigkeiten austreten. Ohne sexuelle Erregung wird das schwierig. Ich brauche Mut, um mich und meinen Körper anderen zuzumuten.


Apropos Erregung: Der Begriff „Erregungsgesellschaft“ wird vor allem im Zusammenhang mit sozialen Medien verwendet. Hier sind es hauptsächlich Bilder und Texte, die uns erregen. Lenken wir unser Erregungspotenzial in die falschen Kanäle?

Die Erregung im virtuellen Raum ist sicher. Solange es virtuell bleibt, gehe ich kein Risiko ein. Da kann ich mich aufregen, worüber ich will. Da kann ich ganz gepflegt meine Sexualität leben und gleichzeitig null Risiko eingehen. Ich trage kein Risiko.

Heißt das, dass Pornografie oder unsere Gewohnheiten, Sexualität im Virtuellen zu leben, unserer Gesellschaft den Mut nimmt?



Sie minimiert ihn sicher, ja. Virtuelle Sexualität minimiert das Risiko, man braucht weniger Mut. Nehmen wir uns als Beispiel: Wir haben uns heute zum ersten Mal persönlich getroffen. Dazu brauchen wir beide Mut. Sie gehen an einen Ort, an dem Sie noch nie waren, in eine Umgebung, in der Sie noch nie waren. Und Sie wissen nicht, wer hier ist und die Türe öffnet. Das Gleiche gilt für mich. Ich weiß nicht, wer kommt und was er von mir will? Sie könnten ein schräg gestrickter Massenmörder sein. 



Können Sie von meinem Mut auf meine Sexualität schließen? Sehen Sie da irgendwas aus Ihrer Erfahrung? 



Nein. Jede Person, die zu mir kommt, ist mutig. Man muss mutig sein, um sich eine Therapeutin auszusuchen. Dann geht man zu ihr und erzählt sein Privatestes. Dinge, die ich vielleicht sogar vor mir selbst verheimliche. Es ist unglaublich mutig, 
in Psychotherapie zu gehen.

Frau Moshammer-Peter, vielen Dank für das Interview.



Liebe Leser:innen,

noch sprechen wir in den meisten Fällen von „künstlicher“ Intelligenz, doch an den Börsen wird schon auf die nächste Phase des neuen technologischen Superzyklus gesetzt, auf: „lebende Intelligenz“. Mit „lebender Intelligenz“ ist die Vernetzung künstlicher Intelligenz mit innovativer Sensorik und Bioingenieurwissenschaften gemeint. Sie wird Medizin, Landwirtschaft und Raumfahrt revolutionieren und zu weiteren neuen Formen von Intelligenz führen. Dieser Fortschritt, der in den nächsten Jahren spannende Veränderungen verspricht, droht angesichts globaler Machtkämpfe allerdings immer rücksichtsloser zu werden und das rückt eine lang ersehnte Vision mächtiger IT-Entwickler im US-amerikanischen Silicon Valley in erschreckende Nähe. Es ist die Vision eines transhumanistischen Menschen und seiner Superintelligenz. Über sie möchte ich mit Ihnen sprechen.



Superintelligenz: Nur noch eine Frage der Zeit.


Einige der reichsten und mächtigsten Männer der Welt, darunter Elon Musk (Tesla, SpaceX, Neuralink), Mark Zuckerberg (Meta, Facebook), Bill Gates (Microsoft, Bill & Melinda Gates Foundation), Jeff Bezos (Amazon, Blue Origin) oder Sam Altman (OpenAI) arbeiten seit Jahren an der Erschaffung einer Superintelligenz. Diese Superintelligenz ist Teil der Vision eines Menschen, der seine Evolution selbst in die Hand nimmt und mithilfe von künstlicher Intelligenz zum technologischen Übermenschen wird: zu einem transhumanistischen Menschen, der ins All aufbricht, um neuen Lebensraum zu besiedeln.



Das Problem mit der Superintelligenz.



Als Superintelligenz wird ein Computer oder ein biotechnologisches Mischwesen bezeichnet, das viel mehr weiß, kann und versteht als wir Menschen. Diese Superintelligenz soll helfen, alle möglichen Probleme zu lösen und unter anderem Krankheit, Alter und Tod zu beenden. Das klingt verlockend, aber die Geschichte hakt. Denn eine Superintelligenz muss, damit wir sie verstehen und ihr Superwissen überhaupt als solches erkennen können, menschlich denken. Die sogenannte Superintelligenz wäre also eine Supermenschenintelligenz.
Nun wissen wir, dass unser menschliches Denken voller unbewusster Prozesse und Projektionen ist und dass wir „Wissen“ immer in eine Erzählung von uns selbst einordnen. Diese Selbsterzählung ist ein Prozess, der ebenfalls unbewusst abläuft – zum Glück, sonst müssten wir uns ständig hinterfragen und das könnte Zweifel an unserem Wirtschafts-system säen und unser gesellschaftliches Machtgefüge destabilisieren: Bloß nicht!




Die Wahrheit über die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft



Die Wahrheit ist, dass dieser Prozess der Destabilisierung schon längst läuft, wir sind mittendrin. Wir nennen ihn die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und übersehen, dass es sich um eine Transformation der Menschheit handelt, denn die Begriffe „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ stehen stellvertretend für unser menschliches Denken und Handeln. Wir sprechen diese Tatsache nur nicht aus, weil insbesondere in Europa noch niemand überzeugend erzählen kann, was nach der Transformation kommt. Was kommt nach der Verwandlung? Was werden wir? Wie sieht die Geschichte unserer Zukunft aus? Die US-Geschichte mit der Superintelligenz und dem technologischen Übermenschen ist eine mögliche, allerdings rückt mit Donald Trump im Weißen Haus eine sehr aggressive, ja narzisstische Selbsterzählung ins Zentrum der transhumanistischen Vision und ihrer Superintelligenz. Das verheißt in einer Welt nervöser Atommächte nichts Gutes.

Europas größte Chance: ein neues Menschenbild!


Jede Selbsterzählung ist selbstgemacht. Das bedeutet, dass wir unser Menschenbild jederzeit verändern können. Nun haben wir Europäer den unschlagbaren Vorteil, einen reichen und vielfältigen historischen Fundus an Ideen und Konzepten zu möglichen Selbsterzählungen des Menschen zu haben. Wenn jemand gute Geschichten unserer Zukunft entwickeln kann, dann wir. Wichtig ist zu verstehen, dass es sich dabei nicht um einen philosophischen Ausritt handelt, sondern um ein Gebot der Stunde. Wenn es uns gelingt, Biodiversität, Alter und Multiversum, um drei Beispiele zu nennen, in eine inspirierende Geschichte zu verpacken, könnten wir zu einer geistigen Führungskraft der Erde werden und auch technologisch und marktwirtschaftlich unseren eigenen Weg gehen.

Aufbruch in die Zukunft Europas

Beseelt von dieser Hoffnung mache ich mich inmitten tiefer politischer Umbrücke mit Text, Mikrofon und Kamera auf die Suche nach der Zukunft Europas. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie in den Geschichten steckt, die wir uns erzählen - man muss nur genau hinhören. Meine Gespräche führe ich mit Menschen aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft und konzentriere mich dabei auf unsere menschliche Kreativität, Spiritualität und Sexualität. Was machen wir draus?

Ihr Gabriel Diakowski

video
Podcast