"Business Creativity ist tot", sagt Mario Pricken
KI-Anwendungen stürzen Kreative ins Dilemma und stellen die Kreativindustrie auf den Kopf. Aber Kreative wären nicht kreativ, hätten sie nicht schon die nächste Idee. Wir haben Deutschlands namhaftesten Kreativitätstrainer gefragt: What’s next?

Mario Pricken ist seit über 20 Jahren der bekannteste Kreativitätstrainer im deutschsprachigen Raum. Die Liebe hat ihn vor sechs Monaten nach Villach geführt, wo er nicht nur mit KI-Anwendungen spielt, sondern auch mit dem Gedanken an einen kreativen Neustart. Im DGUZ-Interview erzählt er vom Ende der Business Creativity und was Villach dem Silicon Valley voraus hat.
Seit über 20 Jahren erklärst du Menschen, wie man kreativer denkt. Rückblickend gesprochen: Sind wir im Laufe der Zeit kreativer geworden?
Ich denke nicht. Aber ich habe fast ausschließlich mit Kreativen aus Creative Industries gearbeitet, also Menschen aus Marketing, Design, Packaging und so weiter. Wenn ich ganz ehrlich bin, war ein Großteil dieser Menschen immer nur bedingt, weil nur gestalterisch kreativ.
Halten wir uns etwa für kreativer, als wir sind?
Meine Aussage soll bitte nicht falsch rüberkommen: Viele von uns hätten viel mehr Potenzial, aber der Kunde ruft es nicht ab. Die Auftraggeber setzen den Frame, innerhalb dessen wir unsere Werke erschaffen. Wenn der Auftraggeber von vornherein schon in rückwärtsgewandten Kategorien denkt, kann man als Kreativer nicht mehr machen, als die Maus zu führen.
Es gibt unterschiedliche Verständnisse von Kreativität. Man kann sie als Fähigkeit zur Problemlösung verstehen; als Ausdruck von Neugier und Freude oder eines menschlichen Geistes, der sich entfalten will. Welches dieser drei Verständnisse teilst du?
Das erste, weil ich ja hauptsächlich mit Business Creativity zu tun habe. In den Creative Industries kommt jemand, der ein Problem hat und auf der Suche nach einer Lösung ist.
Und ganz persönlich gesprochen?
Ich persönlich verstehe unter Kreativität die Fähigkeit, Sinn, Wert und Bedeutung zu erschaffen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass uns Maschinen unsere wahre Kreativität abnehmen können.
Glaubst du, dass es einen menschlichen Geist gibt, der sich mit Kreativität auszudrücken versucht?
Ich bin definitiv der Meinung, dass es das gibt. Es ist dieses tiefe Bedürfnis, sich in einer gewissen Form auszudrücken, ob in der Musik, Malerei oder der Mode. Aber damit werden wir ja nicht beauftragt.
Welche Form der Kreativität kann uns KI abnehmen?
Genau die, mit der ich zu tun hatte: Business Creativity.
Heißt das, dass KI vor allem die Creative Industries bedroht?
Ja, für uns Kreative in den Creative Industries ist KI eine enorme Bedrohung. Denken wir einfach daran, dass in Marketingabteilungen Logos, Packaging-Entwürfe und so weiter ab sofort auf Knopfdruck in allen möglichen Stilen – von Da Vinci bis Keith Haring – mit KI erstellt werden. Wenn das so ist, und ich halte das für sehr wahrscheinlich, ist Business Creativity tot.
Wie kreativ kann KI werden?
Teilweise schockiert mich die Maschine immer noch. Auch deshalb, weil sie sich so schnell weiterentwickelt. Aber die Entwicklungen sind auf ein sehr enges Feld beschränkt. Es ist das Feld, in dem die Maschine kopieren und wiederholen kann. Wenn KI kreativ ist, dann immer mit dem Blick in den Rückspiegel.
Was können Kreative, was KI nicht kann?
Stell dir vor, ich leere eine Kiste mit 200 Legosteinen vor dir aus und du kannst sie beliebig kombinieren. Diese Kombinationen kann jede Maschine besser und schneller, denn es gibt einen bestimmten Rahmen, innerhalb dessen du dich bewegen musst. Dieser Rahmen ist die Form der Legosteine. Unsere menschliche Kreativität beginnt dann, wenn wir die Legosteine eingießen und neue Formen und Funktionen entwickeln. Sobald wir das tun, schaffen und betreten wir neue Felder.
(Foto: "Ein von Menschenhand geschwungener Legostein", Erstellt mit Dall-E von OpenAI)

Wo können wir neue Felder schaffen?
Überall dort, wo wir Angst vor Irrtümern, Fake News, Halluzinationen, Pornografie oder Kriminalität haben. Hier liegt der Rahmen und der wird enger und enger. Die Zukunft unserer Kreativität liegt im Mut, die Regeln zu brechen und neue Felder zu betreten; frecher, mutiger und provokanter zu sein.
Drängt uns KI dazu, Tabus zu brechen?
Ich denke im Moment viel über diese Frage nach und glaube, dass sie sich an Generationen entscheidet. Wenn wir zwei uns über Tabubrüche unterhalten, finden wir bestimmt schnell in eine gute Unterhaltung. Aber wenn ein Dritter, der gerade 20 geworden ist, in die Runde käme, würde er uns wahrscheinlich doof, anstößig oder ekelig finden. Eine Sendung von Harald Schmidt aus dem Jahr 2003 dürfte das ZDF heute nicht mehr ausstrahlen. Das würde Stürme der Entrüstung auslösen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir uns auch gesellschaftlich in ein engeres Korsett zwängen. Insofern passt KI gut in unsere Zeit – und sie spiegelt sie auch gut.
Moralisieren wir unsere Kreativität zu Tode?
Die Tatsache, dass wir so stark moralisieren, führt zu einer Verengung des Spielraums dessen, was sein darf und was nicht. Heute darf man niemanden mehr verärgern oder diskriminieren. Das führt zu einer Verengung im Dialog, in der Gesellschaft und auch in der Kommunikation von Unternehmen. Ich glaube, dass es im Marketing Leute gibt, die KI nutzen und die Beschränkungen gar nicht bemerken. Die kommen gar nicht auf die Idee, die Grenzen auszutesten, weil sie sich diese Limitierungen von vornherein schon selbst setzen.
Das klingt nach einem psychologischen Schachmatt. Auf der einen Seite wird das Korsett immer enger, auf der anderen Seite predigen alle, dass KI uns kreativer macht.
Ja, gut gesagt. Die Frage ist, auf welcher Ebene uns KI kreativer macht? Nehmen wir als Beispiel Bilder her. Die Geschwindigkeit, in der ich heute Bilder erstellen kann, steigt um Faktor 100 bis 1000. Die Beschleunigung führt zu einer Erhöhung der Qualität der Bilder. Schau dir mal die Bilder an, die du von KI-Apps wie Flux bekommst. Ich sag das jetzt bewusst bösartig: 40 % aller österreichischen Profifotografen haben keine Chance mehr gegen KI-Bilder. Dieser Qualitätsanstieg führt dazu, dass das Gesamtlevel der Qualität von Bildern steigt, wobei es sich aber um eine immer bessere Qualität der Wiederholung, der Wiederholung, der Wiederholung handelt. Wir werden also nicht kreativer deswegen. Trotzdem ist es faszinierend zu sehen, wie todgerittene Klischees ein Qualitätslevel erreichen, das man bei vielen Kreativen einfach oft vermisst. Egal, ob es die Handillustration ist, die Fotografie oder der Videoschnitt.
Schaffen diese Optimierungen der Optimierungen einen hyperrealistischen Stil?
Ja, es ist eine Hyperrealität, in der wir auf der Ebene der Gestaltung immer neue Level erreichen.
Was kann KI nicht?
Was KI nicht kann, ist zu erkennen, was im Zuge des gesellschaftlichen Wandels Sinn, Wert und Bedeutung erzeugt. Das können nur wir. KI kann auch nicht absichtslos kreativ sein. Ich versuche, meine KI ja immer kreativer zu machen, mit Kreativmethoden und so. Es ist unmöglich, ihr beizubringen, nicht sinnvoll zu sein. Sie will immer klug sein. KI ist der größte Klugscheißer der Welt. Und wenn sie einmal etwas nicht weiß, beginnt sie zu erfinden. Ist das nicht faszinierend? Bevor sie zugibt, etwas nicht zu wissen, lügt sie lieber.
(Foto: "Screenshot einer Anfrage bei ChatGTP")

Wie siehst du deine Zukunft als Kreativer? What’s next?
KI wird zweifelsohne zur Plattform aller Plattformen. Insofern führt kein Weg an ihr vorbei. (lacht) Aber ich kann mich noch erinnern, als Google rauskam: Weißt du, was Leute da angeboten haben? Es gab Seminare, in denen man lernen konnte, wie man auf Google sucht. Heute sagen wir prompten dazu. In zwei Jahren können das alle …
Also setzt du nicht auf KI?
Ich bin mir noch nicht sicher. Ich glaube, dass die machttektonischen Verschiebungen zwischen den USA und China zur Grundlage allen wirtschaftlichen Geschehens der nächsten Jahre werden. China will wieder zur größten Handelsmacht der Welt aufsteigen und den, wie sie sagen, natürlichen Zustand der Dinge herstellen. Die USA sagt, dass sie die Nummer 1 bleibt und bis an die Zähne bewaffnet ist. In diesem Szenario scheint mir Regionalität und der Rückzug auf eine Region eine sehr attraktive Option zu sein. Außerdem sehe ich im Zusammenhang mit KI ein paar Entwicklungen, die ich nicht gut finde und die mir auch Angst machen. Silicon-Valley-Startups haben alle dieselbe Logik in sich: klein anfangen und dann den Weltmarkt übernehmen. Nehmen wir ein langweiliges Beispiel: eine Buchhaltungssoftware. Die startet mit Buchhaltung und übernimmt dann, weil sie so erfolgreich ist, auch Marketingfunktionen; im nächsten Schritt die Eventplanung, dann die Projektplanung, dann die ganze Marketingabteilung und schließlich auch noch die Produktentwicklung. Diese Logik ist wie Fußpilz, ein schwarzes Loch, das alles sein will. Wo ist dann noch Platz für uns?
Wie lautet deine Antwort?
Ich bin am Überlegen, ob ich mir hier in Villach (Kärnten) nicht etwas Neues aufbaue.
Was kommt in einer Welt der Regionalität auf einen Kreativen zu?
So wie ich es sehe, machen die Konzerne das Weltbusiness und versorgen die Menschheit mit den grundlegenden Dingen. Einen Airbus können wir hier in Villach ja nicht bauen. Uns Kreativen bleibt das Nischengeschäft. Und ich glaube, dass da viel Potenzial drinsteckt. Denn wenn ich ein gutes Kärntner-Gstanzl-Festival mache, bei dem die besten Kärntner-Gstanzl-Sängerinnen auftreten, dann hat das Silicon Valley keine Chance.
Und was muss man als Kreativer, der dieses Gstanzl organisiert, können?
Man muss in die Geschichte des Ortes eintauchen, seine Wurzeln und Vergangenheit kennenlernen und von dort eine Brücke in die Zukunft schlagen können, und zwar so radikal wie möglich, also zum Beispiel mit KI. Dann hat die Sache nicht nur Zukunft, sondern ist auch unfälschbar.
Mario Pricken, vielen Dank für das Interview.