Sexualgeschichte

Was die Pornografie einer Gesellschaft über sie verrät

Sexualhistoriker wie der Österreicher Paul M. Horntrich erforschen Gesellschaften an ihrem Umgang mit Sexualität. Dazu studieren sie deren pornografisches Mater-ial. Was lesen sie heraus? Wo stehen wir? Und: Wie sieht ein Porno der Zukunft aus?

Von
Gabriel Diakowski
Foto:
Paul M Horntrich


Mag. Dr. Paul M. Horntrich war Universitätsassistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und lehrt heute als Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Sexualitäten.






Paul M. Horntrich, Sie sind Sexualhistoriker. Womit genau beschäftigen Sie sich?



Wir beschäftigen uns mit menschlichen Sexualkulturen. Wir erforschen, wie man Sexualität im Kontext bestimmter Epochen thematisiert, das heißt:


- Welchen Stellenwert nimmt Sexualität in einer Gesellschaft ein?
- Wie geht man politisch mit ihr um?

- Welches Wissen wird rund um Sexualität produziert?

- Wer produziert dieses Wissen?

- Wie wird es unter Menschen gebracht und reguliert?


Ist Sexualgeschichte wirklich eine wissenschaftliche Disziplin?



Ja. Vielen ist nicht bewusst, wie viel in einer Gesellschaft über Sexualität ausgehandelt wird. Da geht's nicht nur um Moralvorstellungen, Geschlechterrollen oder Selbstbilder. Es geht auch um die Frage, worüber man überhaupt sprechen darf; wer sprechen darf und wie. Soll Sexualwissen ein Geheimwissen sein oder demokratisiert werden? Was an Sexualität soll verboten oder reguliert werden? Solche Fragen definieren ganze Gesellschaften.


Wie definieren Sie Sexualität?



Für einen Sexualhistoriker ist Sexualität ein Knotenpunkt, an dem große Themen einer Gesellschaft zusammenlaufen. Es ist ein Punkt, an dem unterschiedliche Meinungen, Moralvorstellungen und Rechtsauffassungen aufeinanderprallen. 



Welche Rolle spielt pornografisches Material in Ihrer Forschung?



Wie groß die Bedeutung von pornografischem Material ist, erkennt man daran, dass der Zugang zu ihm so gut wie immer eingeschränkt war. Es enthält Sexualvorstellungen, Bildwelten, Wünsche und vieles mehr von dem, was die Menschen in einer Gesellschaft bewegt. 



Und was verstehen Sie unter Pornografie?



Pornografie, wie wir sie verstehen, hat in der Regel mit einer Grenzübertretung zu tun. Es wird etwas gezeigt, was nicht oder nur in einem bestimmten Rahmen gezeigt werden darf. Was genau das ist, variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft.



Wann beginnt die Geschichte der Sexualität offiziell?



Sexualität begleitet uns seit jeher, aber über weite Strecken fehlen uns Quellen. Wir sehen im Altertum erste Vorstellungen, die unsere Geschichte nachhaltig prägen. Reinheitsvorstell-ungen zum Beispiel oder manichäische Vorstellungen von Licht und Dunkelheit, die bis heute nachwirken. Auch platonische Ideen wie die Vorstellung des Menschen als ein Kugelwesen, das in zwei Hälften, eine männliche und eine weibliche, geteilt wurde, sind bis heute in unserem Denken über Sexualität aktiv.





(Foto: „Pornografie zeigt, wo die Grenzen einer Gesellschaft verlaufen." Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Können Sie mir drei Beispiele aus Ihrer Forschung geben?




Wenn wir uns beispielsweise pornografische oder sexualisierte Darstellungen aus der Antike ansehen, finden wir häufig Darstellungen des Phallus oder Priapus (griechischer Gott der Fruchtbarkeit). Daraus lesen wir unter anderem die Bedeutung von Fruchtbarkeit für eine Gesellschaft. Fruchtbarkeit war nicht nur für die menschliche Fortpflanzung zentral, sondern auch im Bereich der Landwirtschaft, wo man sehr von Wind und Wetter abhängig war. Eine längere Periode mit schlechtem Wetter und eine ganze Gesellschaft musste ums Überleben kämpfen. Diese Abhängigkeit von Fruchtbarkeit schlägt sich in den vielen sexualisierten Darstellungen nieder. Zur Zeit der Revolutionen des 18. Jahrhunderts boomen auf einmal pornografische Pamphlete. Es waren oft einfache Druckschriften in Form von kurzen Bildgeschichten, in denen vor allem gekrönte Häupter, Fürsten oder auch Napoleon auftauchen. Diese Pamphlete zeigen, wie bewegend die politischen Ereignisse damals gewesen sein mussten. Und im Skandalroman „Josefine Mutzenbacher“ aus dem frühen 20. Jahrhundert erkennen wir neben den pornografischen Schilderungen eine sozialkritische Erzählung vom Groß-stadtelend, in dem große Teile der Bevölkerung in Armut und unter fürchterlichen Bedingungen lebten.



Gibt es in der Geschichte der Sexualität eine Epoche, die heraussticht?



Ja, eindeutig unsere. Wissenschaftliche Aufklärung und technologischer Fortschritt haben unser Bewusstsein von Sexualität derart verändert, dass wir heute eine Sexualität leben können, die mit Fortpflanzung nichts mehr zu tun hat. Denken wir an Verhütungsmittel, insbesondere die Pille. Noch nie konnten Menschen ihre Fertilität und Fortpflanzung so gut planen und kontrollieren wie heute.



Heute hat Pornografie viel mit dem Internet und neuen Technologien zu tun. Was lesen Sie daraus?

Pornografie nutzt interessanterweise immer schon die modernsten Technologien. Das beginnt bei Höhlenmalereien, reicht historisch betrachtet über fein bemalte Vasen in der Antike, Buchmalerei im Mittelalter bis zu Buchdruck, Fotografie, Film oder jetzt eben künstlicher Intelligenz. Sobald ein neues Medium aufkommt, beobachten wir sofort pornografische Darstellungen. Was das bedeutet, lässt sich pauschal nicht beantworten.


(Foto: „Soll Sexualwissen Geheimwissen bleiben?“ Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Wodurch zeichnet sich die Pornografie in unserer heutigen Gesellschaft aus?



Durch eine sehr freizügige, ja fast schon anatomische Beziehung zum Körper. Wir sehen auf jeder einschlägigen Plattform, dass Pornografie sehr explizit geworden ist. Dieser Trend reicht bis zur Großaufnahme in den Körper hinein.



Können Sie die politische Spaltung, die wir in westlichen Gesellschaften gerade erleben, auch sexualhistorisch aufschlüsseln?

Im Wesentlichen geht es heute um unterschiedliche Zuschreibungen. Sexualität pendelt zwischen biologischer Funktion auf der einen Seite und Lustgewinn und Selbsterfahrung auf der anderen. Links der Mitte ist man stolz auf alles, was in den letzten Jahrzehnten in puncto Gleichstellung, Gender-Gerechtigkeit und Reproduktionsrechte erreicht wurde. Für dieses Lager hat Sexualität mit Identität und der Verwirklichung des Individuums zu tun. Rechts der Mitte argumentiert man kollektivistisch und stellt die Stärkung der Gruppe, auch in Form der Nation, in den Vordergrund. Hier zählt wenig, wie lustvoll oder stimulierend Sexualität empfunden wird. Sexualität soll in geordneten Bahnen ablaufen und Bevölkerungswachstum bringen.



In den USA wird aber zugleich Individualismus und biologisches Verständnis von Sexualität gefordert. Was ist da los?



Der moderne Populismus, wie ihn die Trump-Administration repräsentiert, unterläuft die Links-Rechts-Zuteilungen. Leute wie Musk sind geschickt darin, Medien, die auf Individuali-smus abzielen, zu nutzen, um konservative Botschaften zu verbreiten. Am Ende dürfte 
es sich um eine Kombination unterschiedlicher Strategien handeln, um einen bestimmten Willen durchzusetzen.


Gab es sexualhistorisch schon mal eine Epoche, in der die Gesellschaft ähnlich gespalten war wie wir heute?

Nein. Wir haben uns in den letzten 100 Jahren ein Bewusstsein von Sexualität erarbeitet, das historisch gesehen einzigartig ist.

Erkennen Sie in unserer heutigen Einstellung zur Sexualität Muster, die wir in die Zukunft übertragen könnten?

Ich denke, dass wir auch weiterhin eine Medialisierung von Sexualität erleben werden. Sexualisierte Darstellungen reichen mittler-weile in alle möglichen Bereiche der Popkultur, einschließlich die Selbstinszen-ierungen auf Social Media. KI wird bestimmt ein großes Thema werden, um neue Bildwelten zu generieren. Generell ist eine starke Technologisierung von Sexualität zu beobachten, aber die haben wir ja heute schon, ob in Form von Verhütungsmitteln, Pornografie im Internet oder Sexspiel-zeugen.


Können Sie sich vorstellen, dass wir demnächst ideologisch motivierte „Nationalpornos“ sehen?



Nein, das glaube ich nicht. Die Pornografie ist ein Medium, das versucht, geltende Verhält-nisse zu unterlaufen. Ich glaube deshalb, dass es eher zu einer Fetischisierung von Ethnie kommt und einer Sexualisierung des Fremden. Da gibt es bereits Vorläufer wie den arab-ischen Porno, der eine eigene Kategorie geworden ist, oder den Hijab-Porno. Vielleicht sehen wir demnächst vermehrt klassische Trump-Anhänger, die mit Latinas in verfängliche Szenen kommen. Das würde der Logik der Pornografie entsprechen.

Wie sieht denn ein Porno der Zukunft aus? 


Der Porno der Zukunft wird von KI generiert sein. Da spielen die Leute all das ein, was sie sich wünschen, und lassen sich von KI ein Video ausgeben, das genau diese Wünsche befriedigt. Teil dieser neuen und künstlichen Bildwelten dürften unter anderem irreale Körperpro-portionen und Techniken sein, die nur ohne Schwerkraft funktionieren.'

(Foto: „In Hentai-Pornografie löst sich die Schwerkraft auf.“ Erstellt mit DALL-E von OpenAI)



Eine Auflösung der Schwerkraft? 



Ja. Man kann sie gut an Hentai (neue Kategorie von Pornografie) erkennen, einem boomenden Porno-Genre, das besonders bei jungen Menschen sehr beliebt ist. Da kommt es zu teilweise absurden Koppelungen von sehr kleinen Menschen und riesengroßen, meist Frauenfiguren. Das, was dann gezeigt wird, klappt über weite Strecken rein physikalisch gar nicht mehr! Aber in Hentai ist es möglich. Wir sehen Körper, die nur mehr so um sich herum kreisen, und es gibt keine Beschränkungen durch die Schwerkraft. Diese Ästhetik kann man mit KI sicherlich noch weiter treiben.

Paul M. Horntrich, vielen Dank für das Interview.