Sexualtherapie

Was Manager:innen über Sexualität wissen sollten

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min

Laut Brigitte Moshammer-Peter erleben wir gerade eine zweite sexuelle Revolution.
Klärungs- und Aufklärungsbedarf sind hoch. Führungskräfte, die bewusst mit dem Thema Sexualität umgehen, können in Transformationsprozessen mehr bewegen.

Von
Gabriel Diakowski
Foto:
Brigitte Moshammer-Peter


Brigitte Moshammer-Peter ist Psycho- und Sexualtherapeutin. Sie ist Lehrbeauftragte an der Sigmund Freud Privatuniversität und Vorstandsmitglied der österreichischen Gesellschaft für Sexualwissenschaften. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, kocht gerne und liebt Hörbücher.


Frau Moshammer-Peter, Sie beschäftigen sich in Ihrer sexualtherapeutischen Praxis mit Macht und Sexualität. Was verstehen Sie unter Macht? 


Macht ist für mich immer gegebene Macht. Jemand muss mir Macht geben, damit ich Macht habe. Führungspersonen haben erst Macht, wenn Mitarbeiter:innen sie ihnen geben.


Was braucht es, damit man mir als Führungskraft Macht gibt?



Damit Sie Macht bekommen, müssen Sie ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Sie müssen etwas ausstrahlen, damit ich mit Ihrer Machtnahme einverstanden bin. Zum Beispiel müssen Sie ausstrahlen, stark genug zu sein, um die Führung zu übernehmen; oder gewissenhaft genug, um Ihre Macht nicht zu missbrauchen.



Was noch?



Vertrauen. Sie müssen Vertrauen erwecken können, damit ich Ihnen Macht gebe. 
Ich muss darauf vertrauen können, bei Ihnen sicher zu sein. Erst in dieser Sicherheit, und das ist besonders in der Sexualität wichtig, kann ich experimentierfreudig werden. 



Wie definieren Sie Sexualität? 



Sexualität hat für die meisten eine biologische Bedeutung, lässt sich aber nicht auf Geschlechtsorgane reduzieren – außer man erklärt das Gehirn zum größten Geschlechtsorgan unseres Körpers. Sexualität wird hormonell gesteuert und bestimmt. Sie ist etwas Emotionales, aber nicht zwingend mit Nähe verbunden. Im Prinzip umfasst Sexualität alle Handlungen, die in Wechselwirkung mit Lust, Angst, Neugier und vielen anderen Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen stehen. Sie hat mit Körperlichkeit zu tun und mit dem, was ich körperlich zum Ausdruck bringe. Sport hat beispielsweise viel mit Sexualität zu tun. Viele Menschen berichten von orgasmusähnlichen Gefühlen, vom ersten Orgasmus beim Radfahren zum Beispiel.




(Foto: "Studien zu sportinduzierten Orgasmen legen nahe, dass ein Orgasmus kein sexuelles Ereignis sein muss." Erstellt mit Dall-E von Open AI)



Sie haben in Zusammenhang mit Macht jetzt drei Begriffe erwähnt: Gewissen, Stärke und Vertrauen. Welchen davon verbinden Sie am schnellsten mit Sexualität?

Vertrauen. Ich brauche Vertrauen, um mich bei Ihnen fallen lassen zu können; Vertrauen, dass Sie es gut mit mir meinen. Aber auch Vertrauen in mich selbst; Vertrauen, dass ich Grenzen setze, wenn es mir zu viel wird, sich nicht mehr gut oder stimmig anfühlt.



Welche Assoziationen weckt das Begriffspaar Sexualität und Führung?



Da fällt mir natürlich erst mal BDSM ein. Wenn ich mir in meiner Führungsposition zum Beispiel ohnmächtig oder ratlos vorkomme, könnte ich meine Ohnmacht in der Sexualität in Macht verwandeln. Vielleicht versuche ich als Führungskraft, die sich ohnmächtig fühlt, in der Sexualität sehr dominant zu sein, um in diesem Erlebnisraum wieder die Führung zu übernehmen. Auch das umgekehrte Szenario ist möglich.



Was halten Sie von der Vorstellung, dass jede Führungskraft eine Projektionsfläche für bestimmte sexuelle Inhalte oder Rollen ist? Zum Beispiel für die Rolle des Vaters, der Mutter, des Geliebten oder der Rivalin?



Ich glaube, dass diese Vorstellung zutrifft. Die Frage ist nur, ob sich Führungskräfte dessen bewusst sind und wie sie mit den Projektionen umgehen. Mir fällt aber auf, dass Sie nur positive sexuelle Projektionen genannt haben. Es geht auch andersrum, man kann genauso eine sexuelle Aversion gegen eine Führungskraft haben. Mir könnte vor meinem Chef ekeln, auch das ist möglich. Aber Sie haben recht: Macht hat etwas Erotisches und damit ist jede Führungsposition in gewisser Weise sexuell besetzt. 
Als Therapeutin finde ich aber eine andere Frage spannender, nämlich die, ob ich mich in einer Führungsrolle selbst erotischer erlebe als sonst?



Und?



Das kann man nicht pauschal beantworten.


(Foto: "Erlebt man sich in Führungsrollen erotischer?" Erstelle mit Dall-E von OpenAI)



Blicken wir in den Wirtschaftsalltag. Was versteht eine Sexualtherapeutin unter Transformation?




Transformation heißt für mich Veränderung. Transformation erlebt man in meinem Beruf unglaublich oft. Das ist dieses Aufbrechen der eigenen Krusten, um den Menschen rauszuholen, der ich wirklich bin. Dieser Prozess hat oft mit Sexualität zu tun, aber nicht jeder Mensch wählt eine Sexualtherapie, um sich zu verändern. Auf jeden Fall wirkt sich eine persönliche Transformation auch aufs Berufsleben aus, weil sie idealerweise zu mehr Offenheit und Individualität führt.


Viele Transformationsprozesse scheitern, weil Menschen Angst haben, sich zu verändern und loszulassen. Sie haben Angst, etwas Neues auszuprobieren.

Ja, das erlebe ich in meiner Praxis jeden Tag. Ich würde sogar sagen, dass wir gerade eine zweite sexuelle Revolution erleben. Viele Menschen in meiner Praxis stellen sich die Frage, wie sie ihre Beziehungen und ihre Sexualität leben wollen. Ist Monogamie ein Auslaufmodell? Und wenn wir Sexualität offen leben wollen, wie gestalten wir sie? Wie geht man mit Eifersucht um? Wie mit Unsicherheiten? Das sind entscheidende Fragen in der Begleitung meiner Klientinnen, die enorme Auswirkungen auf die Transformation unserer Gesellschaft haben.



Kann sich ein Mensch transformieren, ohne seine Sexualität zu reflektieren? 




Ich denke, dass man in einer Transformation über alle Lebensbereiche nachdenkt. 
Über Paarbeziehungen, Freundschaften, das Verhältnis zur Familie, die Einstellung zur Religion und so weiter. Irgendwann kommt die Frage nach Sexualität dazu, weil sie in alle unsere Beziehungen hineinspielt. Sexualität ist für unser Menschsein zentral. Ob ich meine sexuelle Reflexion kommuniziere, steht aber auf einem anderen Blatt.

Wie geht man als Führungskraft bewusst mit Sexualität um?


Ich kann Führungskräften vor allem empfehlen, neugierig auf ihre Mitarbeiter:innen zu sein und sie zu fragen, wer sie sind, was sie können und welche Ideen sie haben. 
Da bilden sich viele Parallelen zum Erleben von Sex, der ja nur gut und spannend werden kann, wenn ich mit meinem Gegenüber kommuniziere: Wer bist du? Worauf hast du Lust? Nach dem Motto: Lass uns gemeinsam probieren, wohin es führt.



Hängen Neugier und Sexualität zusammen?



Natürlich, Neugier treibt an und schafft Lust am Experiment. Ich denke, dass man in Transformationsprozessen viele neugierige Menschen braucht. All die sprudelnden Geister und Unangepassten, die Troubles machen. Die würde ich als Führungskraft in meinem Team wollen. Wer sonst soll das Ruder rumreißen? Ich glaube, dass Führungskräfte, die an der Transformation einer Organisation arbeiten, gut beraten wären, Menschen zu ermutigen, das zu leben, was sie sind und was sie wollen. Was hat uns denn als Menschheit vorwärtsgebracht? Es waren Ideen. Und Durchmischung.



Es gibt in der Wirtschaft viele Menschen, die einfach nur Dienst nach Vorschrift machen. Was sagen Sie denen?



Ich entschuldige mich bei allen Beamten, die mit Herzblut bei der Sache sind. Aber am Klischee ist was dran: Je enger das Korsett ist, in das ich mich zwänge, desto frustrierter bin ich, weil ich meine Individualität nicht leben kann. Nur dort, wo Leute am Arbeitsplatz ihre Individualität leben können, findet man zufriedene Mitarbeiter:innen. Das hat neuerdings unter dem Begriff "Mental Health" neue Relevanz bekommen.




(Foto: "Mit dem Begriff "Mental Health" bekommt Sexualität eine neue Relevanz", Erstellt mit Dall-E von OpenAI)



Kann man im Beruf veränderungsresistent bleiben und zu Hause trotzdem ein erfülltes sexuelles Leben haben?

Nein, aber Menschen, die im Beruf immer dasselbe machen und nichts verändern wollen, können sich zu Hause auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Sexualität einigen. Ihre Frage amüsiert mich, weil sie offenbar voraussetzen, dass das Sexualleben der Menschen lustvoll ist. Das kann ich nicht bestätigen. Viele Menschen wollen sich nicht verändern und sich auch nicht anstrengen. Aber ich denke, dass unsere Gesellschaft solche Menschen auch braucht. Nehmen wir den Busfahrer. Ich möchte nicht, dass sich mein Busfahrer verändert, sondern dass er wie gewohnt an jeder Haltestelle Halt macht. 



Passenderweise sind Routineberufe genau jene, die am ehesten von Maschinen und KI ersetzt werden. 



Ja, die neue U5 fährt zum Teil automatisch, habe ich gehört.

Hat diese Routine, die Sie beklagen, mit Monogamie zu tun? Brauchen wir zur Transformation mehr selbstbewusste und individualisierte Singles?



Das würde ich so nicht sagen. Wir brauchen Menschen, die sich trauen, das zu leben, was sie sind. Mir ist es egal, ob sie als Singles oder in einer Paarbeziehung leben; ob sie Poli sind oder in offenen Beziehungen leben, darum geht es nicht. Es geht darum, sich zu fragen, was ich will – und das zu leben.


Ist eine Führungskraft, die Lust ausstrahlt, erfolgreicher als eine Führungskraft, die keine Lust ausstrahlt?

Eine Führungskraft, die Lust ausstrahlt, holt sicher mehr Mitarbeiter:innen ab. Lust wirkt attraktiv, Lust wirkt anziehend. Ich denke, dass man vor allem in Innovationsprozessen Menschen braucht, die Lust haben, sich zu erproben und Risiko einzugehen. Die gerne ausprobieren, ohne zu wissen, ob es ihnen gefällt oder wozu es führt. 
Das kann auch in der Sexualität sehr förderlich sein.


Kann man eine Organisation von Menschen transformieren, ohne Sexualität zumindest anzusprechen?

Ich glaube, dass man hinschauen sollte, wie in Organisationen mit Sexualität umgegangen wird. Wie gehen wir mit Geschlecht um? Wo gibt es sexuelle Energien? Was machen wir mit ihnen? Sprechen wir sie an? Und wenn ja, wie? Mit Humor? Wie kanalisieren wir sie? Wie machen wir sie bewusst?



Viele Studien und Befragungen von Manager:innen kommen zum Schluss, 
dass fehlende oder mangelnde Kommunikation das größte Problem in Transformationsprozessen ist. Sind wir sprachlos geworden und haben das Kommunizieren verlernt? Oder vermuten Sie andere Gründe?



Ich vermute mangelnden Mut. Traue ich mich, etwas anzusprechen? Traue ich mich, etwas einzufordern? Traue ich mich, meine Ideen rüberzubringen? Traue ich mich, zu sagen, dass ich die Idee nicht gut finde? Dass ich vielleicht eine bessere Idee hätte? 



Hat Mut etwa auch mit Sexualität zu tun?

Absolut. Ich brauche Mut, um mich zu zeigen, wie ich bin, meine Wünsche zu äußern. Grenzen zu setzen. Ich brauche Mut, um mich anderen zuzumuten – mit all meiner Körperlichkeit und meinen Gerüchen. Stellen wir uns Sex ohne sexuelle Erregung vor: 
Da ist ein anderer Körper, der riecht und aus dem Körperflüssigkeiten austreten. Ohne sexuelle Erregung wird das schwierig. Ich brauche Mut, um mich und meinen Körper anderen zuzumuten.


Apropos Erregung: Der Begriff „Erregungsgesellschaft“ wird vor allem im Zusammenhang mit sozialen Medien verwendet. Hier sind es hauptsächlich Bilder und Texte, die uns erregen. Lenken wir unser Erregungspotenzial in die falschen Kanäle?

Die Erregung im virtuellen Raum ist sicher. Solange es virtuell bleibt, gehe ich kein Risiko ein. Da kann ich mich aufregen, worüber ich will. Da kann ich ganz gepflegt meine Sexualität leben und gleichzeitig null Risiko eingehen. Ich trage kein Risiko.

Heißt das, dass Pornografie oder unsere Gewohnheiten, Sexualität im Virtuellen zu leben, unserer Gesellschaft den Mut nimmt?



Sie minimiert ihn sicher, ja. Virtuelle Sexualität minimiert das Risiko, man braucht weniger Mut. Nehmen wir uns als Beispiel: Wir haben uns heute zum ersten Mal persönlich getroffen. Dazu brauchen wir beide Mut. Sie gehen an einen Ort, an dem Sie noch nie waren, in eine Umgebung, in der Sie noch nie waren. Und Sie wissen nicht, wer hier ist und die Türe öffnet. Das Gleiche gilt für mich. Ich weiß nicht, wer kommt und was er von mir will? Sie könnten ein schräg gestrickter Massenmörder sein. 



Können Sie von meinem Mut auf meine Sexualität schließen? Sehen Sie da irgendwas aus Ihrer Erfahrung? 



Nein. Jede Person, die zu mir kommt, ist mutig. Man muss mutig sein, um sich eine Therapeutin auszusuchen. Dann geht man zu ihr und erzählt sein Privatestes. Dinge, die ich vielleicht sogar vor mir selbst verheimliche. Es ist unglaublich mutig, 
in Psychotherapie zu gehen.

Frau Moshammer-Peter, vielen Dank für das Interview.